Langeweile - ein Qualitätserlebnis
von G. John, Vereinsmitglied
Prolog:
Diesen Artikel hatte ich bereits vor fast einem Jahr geschrieben, ohne ihn zu veröffentlichen.
Jetzt, in der Zeit von Covid-19 ergibt sich eine völlig neue Aktualität,
besonders der Text Bonhoeffers „Qualitätsgefühl“, aber auch das von unserem Obmann Uwe Träger in seinem Buch beschriebene „Balsam für die Seele“.
Juni 2019
Langeweile – ein Qualitätserlebnis
Neudeutsch heißt es Entschleunigung oder cool down. In Kärnten: Lei lossn ;-)
Heute haben wir Apps und Tutorials, die uns zeigen sollen, wie wir entspannen können. Es gibt Yoga-Kurse, Entspannungs-, Tai-Chi-, Bewusstes Atmen- und Bewusstseinskurse…
Früher ging das von allein – und ohne Kursus-Stress. ;-)
Warten auf den Bus, warten beim Amt oder Arzt, warten auf einen Termin, warten auf einen Anruf, warten auf den Programmbeginn des Fernsehens. – Außer einem Buch oder einer Zeitschrift gab es kaum Möglichkeiten der kurzweiligen Zerstreuung - Was blieb einem übrig außer "Langeweile"?
Das Beschäftigen mit sich selbst, sich Gedanken machen über sich selbst, seine Liebsten (oder Übelsten), Gott und die Welt. Träumen…
Vor über 15 Jahren ging ich an die See. Heute, da Kärnten meine Heimat geworden ist, gehe ich auf den Berg, um meine Gedanken in die Unendlichkeit entlassen zu können.
Kein Netz – kein Net – kein Telefon – HERRLICH!
Im Kleinen mache ich es auch zuhause. Ich verbanne mein Handy einfach dahin, wo das Telefon früher stand, im Flur!
Manchmal höre ich das Klingeln zu spät, manchmal gar nicht. Leute sagen mir, ich wäre schwer erreichbar.
– Ja! Ich lasse mein Handy sogar manchmal zuhause, auch wenn ich ausgehe. ;-)
Ist es ein neues Phänomen, dass wir heute keine Zeit mehr haben zur Langeweile?
Nein!
Dietrich Bonhoeffer hat in „Widerstand und Ergebung“ im Kapitel „ Qualitätsgefühl“ geschrieben:
"[…] Gesellschaftlich bedeutet das den Verzicht auf die Jagd nach Positionen, den Bruch mit allem Starkult […]
Kulturell bedeutet das Qualitätserlebnis die Rückkehr […] von der Hast zur Muße und Stille, von der Zerstreuung zur Sammlung, von der Sensation zur Besinnung, […] vom Snobismus zur Bescheidenheit, von der Maßlosigkeit zum Maß."
Auch unser Obmann Pfarrer Uwe Träger hat dieses Thema in seinem Buch „Wellness als Chance für die kirchliche Praxis“ aufgegriffen, in dem er unter anderem das fiktive Hotelprojekt „Näfäsch“ beschreibt und verschiedene Ausübungen von „Balsam für die Seele“.
Mein Wunsch für Euch:
Langweilt Euch doch mal wieder – und genießt es! :-)
Du, allein mit Dir (und Gott) oder gemeinsames Schweigen genießen mit einem Liebsten.
Epilog:
„…genießen mit einem Liebsten“ schrieb ich vor einem Jahr.
Heute haben das Zusammenseinkönnen und die Beschäftigung mit sich selbst eine unglaubliche Bedeutung bekommen. Die Corona-Pandemie hat auch Positives hervorgebracht. Sie hat uns dazu gezwungen, uns wieder mit uns selbst zu beschäftigen. Prioritäten wurden verschoben, der Menschen neben uns, unsere Alten und wir selbst wurde wieder in unser Bewusstsein gerückt. Väter verbringen wieder mehr Zeit mit ihren Kindern, gehen mit ihnen raus, spielen mit ihnen zusammen...
Auch unsere Umwelt dankt für diese (kurze?) Pause.
In Venedig kann man wieder bis auf den Grund des Canale Grande sehen – verblüffend, oder?!
Doch sollten wir auch in den stündlich neuen Meldungen über Corona-Verordnungen, Corona-Erkrankten, Corona-Toten und Corona Wirtschaftsprognosen ENTSCHLEUNIGEN!
Psychologen sprechen bereits von einem Corona-Trauma.
Wir durchstehen diese Krise wohlbehütet und mit größtmöglichem Komfort.
Seien wir dankbar für die Umsicht unserer Regierung. Die Entwicklung zeigt, dass wir in Österreich dank der Maßnahmen, so schwer sie fallen, unseren Nachbarländern Wochen voraus sind und wir Todeszahlen wie in Amerika, Spanien und Italien nicht zu beklagen haben. Wie restriktiv Maßnahmen sein und welche existentiellen Gefahren lauern könnten, hat uns unser Mitglied Dr. Kurt Udermann bereits auf unserer WhatsApp-Gruppe HAPAX-Diskussion aus Kolumbien berichtet. Hier heißt es wirklich „Kampf ums Überleben“. Den Bericht findet ihr hier: Coronazeit in Kolumbien
Lassen wir uns, gerade mit Blick in die Welt, in unserem gut behüteten Land nicht entmutigen und verlieren wir nicht den Humor. Wir können es uns leisten!
Erst wenn wir nicht mehr lachen können, wird es ernst! ;-)
Ich wünsche mir und euch, dass wir nach Bewältigung dieser weltumspannenden Bedrohung, nicht einfach zum Alltag zurückkehren, sondern einiges gelernt haben und unsere Fehler so schnell nicht wiederholen.
Vielleicht haben wir etwas gelernt…