Rundbrief 2020-06 Das Haus

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HAPAX und ein herzliches Hallo zum Rundbrief Juni 2020!

Durch die Coronakrise gab es von Mitte März bis Ende April 2020 für alle Bürgerinnen und Bürger Österreichs strenge Ausgangsbeschränkungen. Wir durften Wohnungen und Häuser nur in wenigen Ausnahmen verlassen. Dadurch musste der Alltag zuhause neu und anders geregelt und strukturiert werden. Für viele war das eine Herausforderung, aber auch eine Chance, die Wohnung oder das Haus als gute Oase für das Miteinander von Menschen und für sich selbst zu entdecken und zu gestalten. Unser Vereinsmitglied John hat dem Begriff „Langeweile“ einen neuen Akzent gegeben – siehe seine Überlegungen unter Beiträge/Kommentare auf unserer Homepage.

Das ehemalige Wohnhaus der Familie Bonhoeffer in der Marienburger Allee 43 in Berlin wurde am 1. Juni 1987 (also vor 33 Jahren) als Erinnerungs- und Begegnungsstätte eingeweiht. Zu diesem Anlass hat Bonhoeffers bester Freund, Eberhard Bethge, seine Erinnerungen an dieses Haus aufgeschrieben:


Das Bonhoefferhaus (Bildnachweis M11)

„Meine…Zeit begann erst zu Weihnachten 1935, als Dietrich den Provinz-Sächsischen Landjungen zum ersten Mal aus Finkenwalde mitbrachte…Ich finde mich dann wieder, für Tage, dann auch für Wochen oben mit ihm gemeinsam in seinem Zimmer unter dem Dach – wir waren beide Langschläfer! – etwa während der unsicheren Wochen 1937, als wir anstelle des von der Geheimen Staatspolizei versiegelten Seminars die Sammelvikariate zu erfinden…hatten, um die nächsten Schritte zu beraten. Oder als es in jenen Wochen nach der endgültigen Auflösung der Seminararbeit im Frühjahr und Sommer 1940 darum ging, Dietrichs und meine nächste Zukunft zu finden…Bedenken Sie dabei, daß das Fenster jener Dachstube zur damaligen Nr. 42 hinaussah, auf den Garten des Nachbarhauses, in welchem die Gegenwart der Schleicher-Kinder für mich immer aufregender und verlockender zu werden begann [Bethges Frau Renate war Tochter von Bonhoeffers ältester Schwester Ursula Schleicher]…Ich finde es bedeutsam, daß in Berlin jetzt beides geschieht…: die Sicherung der kümmerlichen Reste des Reichssicherheitshauptamtes in der Prinz-Albrecht-Straße, der ‚Zentrale des Terrors‘ und die renovierende Sicherung und Öffnung solcher Privathäuser, wie dieses es war…So war das nämlich: dort die Zentrale zur Sicherung des Dritten Reiches, Fluren, Hallen, Etagen, ausgestattet mit Kommando- und Planungsstäben, Karteien und Folterkellern…Und hier: eines der schwachen Zentren zur Entsicherung des Dritten Reiches; ein Familienhaus, 1935 errichtet als Domizil für einen Medizinprofessor im Ruhestand am Saum des Grundwaldes…; Einkehrort für jede der sechs beruflich ganz unterschiedlich eingespannten Kinderfamilien: Karl-Friedrich, der Physiker in Leipzig; Klaus, der Jurist bei der Lufthansa; Ursula mit dem Mann im Luftfahrtministerium: Christel mit dem ihren im Justizministerium; Sabine mit dem aus seiner Universität verbannten Mann; Susanne mit dem bei der verbotenen Kirchlichen Hochschule; und Dietrich in der Leitung eines illegalen Predigerseminars…Wahrhaftig, die Marienburger Allee 43: ganz und gar keine Zentrale – aber ein Zentrum…Refugium und Quellort für die Energie zum Durchhalten und zu immer neuer Motivation…Ich möchte versuchen, den Geist, mit dem seine Insassen dieses Haus unverwechselbar füllten, anhand von drei Zitaten zu vergegenwärtigen. Was die Zitate zu Dietrich, Christel und Gerhard Leibholz [Schwester und Schwager Bonhoeffers] sagen, gilt nicht nur für sie. Sie charakterisieren sie alle nach der einen und anderen Seite, Eltern und Geschwister, ihre Reaktionen auf die Zeitläufe sind denkbar verwandt. Erich Fromm [Psychoanalytiker, 1900 – 1980] schrieb 1973:…‘Die Weisheit, die Tiefe und die Stärke dieses Mannes [gemeint ist Dietrich Bonhoeffer] sind ganz einzigartig und bewegen einen zutiefst…Mir scheint, daß eben diese leuchtende Gestalt D. Bonhoeffers tatsächlich die Blüte der deutschen Kultur darstellt, in Jahrhunderten ausgebildet und seinen stärksten Ausdruck findend in solchen Individuen. Wird es eine Fortsetzung dieser deutschen Tradition geben? Oder ist sie tot wie die meisten noblen Dinge in der gegenwärtigen Welt?‘…Das zweite Zitat stammt aus der Beerdigungsansprache für Christine von Dohnanyi im Februar 1965…:…‘Ihre Kritik war genau und zielsicher. Sie hielt Distanz zur Infamie und Erbärmlichkeit ihrer Tage…Von ihrem Vater schrieb sie einmal: ‚Er war ein Fels, wenn man ihn brauchte.‘ Das war sie selbst. Ich denke an kritische Momente des Kirchenkampfes. Wir alle wissen von ihrem Einsatz für Deutschland…‘ Das dritte Zitat gilt Gerhard Leibholz:…‘Was er sagte, war glaubwürdig, weil jeder, der mit ihm zusammentraf, spürte, daß das, was er sagte, seiner inneren Überzeugung entsprach und auch sein Handeln bestimmte. Die mit persönlicher Bescheidenheit einhergehende Souveränität verlieh ihm ungewollt eine selbstverständliche Autorität und Distanz…‘ So waren sie, die dieses Haus bewohnten. Das ist vom Geiste dieses Hauses. Und der überlebt den Ungeist jener zur ewigen Dauer selbst-erklärten Machtzentrale. Das zu sehen, müssen wir auch dorthin gehen. Hier aber gehen wir gerne hin.“ (Quelle: Eberhard Bethge: Haus; Familie und Gäste in der Marienburger Allee 43. Zur Einweihung der Erinnerungs- und Begegnungsstätte am 1. Juni 1987, in: Ders.: Erstes Gebot und Zeitgeschichte. Aufsätze und Reden (1980 – 1990), München 1991, S. 154 – 160).   

Bonhoeffer charakterisiert die eigene Wohnung als Ort, an dem der Mensch Freuden des persönlichen Lebens erfährt: „Die Wohnung des Menschen hat nicht wie der tierische Unterschlupf nur den Sinn eines Schutzes vor Unwetter und Nacht und der Pflegestätte für die Jungen, sondern sie ist der Raum, in dem der Mensch die Freuden seines persönlichen Lebens in der Geborgenheit der Seinen und seines Eigentums genießen darf. Essen und Trinken dient nicht allein dem Zweck der Gesunderhaltung des Körpers, sondern auch der natürlichen Freude am leiblichen Leben. Die Kleidung soll nicht nur den Körper notdürftig bedecken, sondern zugleich eine Zierde des Leibes sein. Erholung hat nicht nur den Zweck einer größeren Arbeitsleistung, sondern sie gewährt dem Leib das Maß der ihm zukommenden Ruhe und Freude. Das Spiel ist seinem Wesen nach fern aller Zweckbestimmtheit, der deutlichste Ausdruck für die in sich ruhende Selbstzwecklichkeit leiblichen Lebens. Die Geschlechtlichkeit ist nicht nur Mittel der Fortpflanzung, sondern trägt innerhalb der Ehe ihre Freude unabhängig von dieser Zweckbestimmung in der Liebe zweier Menschen zueinander. Es geht aus dem Gesagten hervor, daß der Sinn des leiblichen Lebens niemals in seiner Zweckbestimmtheit aufgeht, sondern erst in der Erfüllung des ihm innewohnenden Anspruchs auf Freude erschöpft wird.“ (Quelle: Ethik, DBW 6, S. 181 f.)

 

Zwei Fragen zum Nachdenken:

  1. In welches Haus bist Du gerne gegangen bzw. gehst Du gerne?
  2. Welche Werte und Erkenntnisse sind Dir während der strengen Ausgangsbeschränkungen wichtig oder unwichtig geworden?

 

Lesen wir bis zum Rundbrief Juli 2020: 

Psalmen 17 – 19; Matthäus-Evangelium Kapitel 17, die Verse 22 – 27.

Liebe Grüße,

Euer Obmann Uwe