Rundbrief 2025-12 Himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt

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HAPAX und ein herzliches Hallo zum Rundbrief Dezember 2025!

In aller Welt wird an Dietrich Bonhoeffer zu seinem 80. Todestag am 9. April 2025 mit Gedenkfeiern, Vorträgen, Aufsätzen, Zeitungsartikeln, Büchern und Diskussionen gedacht. Weit weniger Anerkennung und Beachtung erhalten andere

Persönlichkeiten aus dem politischen Widerstand gegen das NS-Regime, die auch vor 80 Jahren ermordet worden sind: Bonhoeffers Bruder Klaus (siehe meinen Rundbrief März 2025 über ihn!) seine Schwager Hans von Dohnanyi (siehe meinen Rundbrief September 2025 über ihn) und Rüdiger Schleicher (siehe meinen Rundbrief Oktober 2025 über ihn), der Offizier Hans Oster (1887 - 1945) und General Wilhelm Canaris (1887 – 1945) die mit Bonhoeffer im KZ Flossenbürg ermordet wurden.

Ein 15-jähriges jüdisches Mädchen, das nach ihrem Tod durch ihr Tagebuch weltberühmt wurde, verstarb vor 80 Jahren im Winter 1945 völlig entkräftet durch Hunger und Krankheit im KZ Bergen Belsen (Niedersachsen). Es ist Anne Frank, geboren am 12. Juni 1929. Ihre Schwester Margot Frank verstarb ebenfalls in diesem KZ, ihre Mutter Edith Frank-Holländer verstarb am 6. Jänner 1945 im KZ Auschwitz, ihr Vater überlebte dieses KZ und verstarb 1980 in der Schweiz. Die Familie Frank kam ursprünglich aus Frankfurt am Main. Sie waren liberale Juden und feierten jüdische und christliche Feste. Aus wirtschaftlichen Gründen und durch das zunehmend antisemitische Klima in Deutschland zog die Familie in das niederländische Amsterdam. Im Mai 1940 kapitulierten die Niederlande. Das Leben der Familie Frank war nun von Angst geprägt. Seit Juli 1942 versteckte sich Anne mir ihrer Familie in einem Hinterhaus eines Betriebsgeländes in Amsterdam. Im August 1944 wurde das Versteck entdeckt. Die Familie wurde durch den Wiener Karl Sieberbauer (verstarb 1972 in Wien), einem Beamten des Sicherheitsdienstes „Grüne Polizei“, verhaftet. Anfang September 1944 wurde die Familie in das KZ Auschwitz deportiert und getrennt. Zu ihrem 13. Geburtstag am 12. Juni 1942 bekam sie ein Tagebuch geschenkt, das sie ab diesem Tage führte und das am 1. August 1944 endete. Ihr Tagebuch, das bei der Verhaftung glücklicherweise nicht beachtet wurde, erschien 1947 unter dem Titel „Das Hinterhaus“. Es wurde in 70 Sprachen übersetzt und von der UNESCO in das Weltdokumentenerbe aufgenommen. Anne schreibt ihre Eintragungen an Kitty, einer fiktiven Freundin, und reflektiert dort ihre Lebenserfahrungen und Gefühlswelt, die für eine Jugendliche typisch sind: ihre erste Liebe, ihre eigenen Ideen, Pläne und Sehnsüchte für ihr Leben in Abgrenzung zu ihrer etwas älteren Schwester und ihren Eltern. Mit Aussagen aus ihrem Tagebuch wird sie zur Anwältin des Menschlichen in einer unmenschlichen Zeit. Diese sind bis heute aktuell geblieben. Daher wird ihr Tagebuch von Menschen jeden Alters und aus unterschiedlichen Religionen und Kulturen geschätzt.

(Hinweis: Der evangelische Militärsuperintendent Karl-Reinhart Trauner hat einen kurzen und guten Aufsatz über Anne Franks Leben verfasst: „… wie ich sein könnte, wenn …“ Zum 80. Todestag von Anne Frank, in: Standpunkt. Schriften des Evangelischen Bundes Österreich Heft 259/2025, S. 3 - 6)

Am 12. Juni 1942 schreibt Anne: „Ich werde, hoffe ich, dir [dem Tagebuch] alles anvertrauen können, wie ich es noch bei niemanden gekonnt habe, und ich hoffe, du wirst mir eine große Stütze sein.“ (Quelle: Anne Frank: Tagebuch, Frankfurt/M. 2001, S. 11)

Am Mittwoch, 3. Mai 1944 schreibt sie: „Liebe Kitty! Du kannst dir sicher denken, wie oft hier verzweifelt gefragt wird: ‚Wofür, oh, wofür nützt nun dieser Krieg? Warum können die Menschen nicht friedlich miteinander leben? Warum muss alles verwüstet werden?‘ Diese Frage ist verständlich, aber eine entscheidende Antwort hat bis jetzt noch niemand gefunden … Warum gibt man jeden Tag Millionen für den Krieg aus [siehe den gegenwärtigen Ukraine-Krieg!] und kein Cent für die Heilkunde, für die Künstler, für die Armen? Warum müssen die Leute hungern, wenn in anderen Teilen der Welt die überflüssige Nahrung wegfault? … Im Menschen ist nun mal ein Drang zur Vernichtung, ein Drang zum Totschlagen, zum Morden und Wüten, und solange die ganze Menschheit … keine Metamorphose [Verwandlung] durchläuft, wird Krieg wüten, wird alles, was gebaut, gepflegt und gewachsen ist, wieder abgeschnitten und vernichtet, und dann fängt es wieder von vorne an.“

(Quelle: Anne Frank: Tagebuch, Frankfurt/M. 2001, S. 266)

Zum Heiligen Abend am Freitag, 24. Dezember 1943 schreibt sie: „Beste Kitty! Ich habe dir schon öfter geschrieben, dass wir hier alle so unter Stimmungen leiden … ‚Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt‘ ist da bestimmt zutreffend. ‚Himmelhoch jauchzend‘ bin ich, wenn ich daran denke, wie gut wir es hier haben im Vergleich zu alle den anderen jüdischen Kindern … Und ‚zu Tode betrübt‘ überfällt mich …, [wenn ich] eine heftige Sehnsucht [bekomme], auch mal wieder Spaß zu machen und zu lachen, bis ich Bauchweh habe … Glaube mir, wenn man eineinhalb Jahre eingeschlossen sitzt, kann es einem an manchen Tagen mal zu viel werden … Gefühle lassen sich nicht zur Seite schieben. Radfahren, tanzen, pfeifen, die Welt sehen, mich jung fühlen, wissen, dass ich frei bin - danach sehne ich mich … Weinen kann so eine Erleichterung bringen, wenn man nur einen Menschen hat, bei dem man weinen kann.

Trotz allem … vermisse ich jeden Tag und jede Stunde die Mutter, die mich versteht. Und deshalb denke ich bei allem, was ich tute und was ich schreibe, dass ich später für meine Kinder die Mutter sein will, wie ich sie mir vorstelle. Die Mams, die nicht alles so ernst nimmt, was dahingesagt wird, und doch ernst nimmt, was von mir kommt.“ 

(Quelle: Anne Frank: Tagebuch, Frankfurt/M. 2001, S. 153 – 155)    

Zwischen den Jahren am Mittwoch, 29. Dezember 1943 schreibt sie: „Warum träume und denke ich immer die schlimmsten Dinge und würde vor Angst am liebsten schreien? Weil ich doch noch, trotz allem, Gott nicht genügend vertraue. Er hat mir so viel gegeben, was ich sicher noch nicht verdient habe, und doch tue ich jeden Tag so viel Falsches! Man könnte weinen, wenn man an seinen Nächsten denkt … Aber man kann nur beten, dass Gott ein Wunder geschehen lässt und einige von ihnen verschont.“ (Quelle: Anne Frank: Tagebuch, Frankfurt/M. 2001, S. 156)

In ihrer letzten Tagebucheintragung am Dienstag, 1. August 1944 schreibt sie: „Liebe Kitty! … Ich habe große Angst, dass alle, die mich kennen, wie ich immer bin, entdecken würden, dass ich eine andere Seite habe, eine schönere und eine bessere. Ich habe Angst, dass sie mich verspotten, mich lächerlich und sentimental finden, mich nicht ernst nehmen … In Gesellschaft ist die liebe Anne also noch nie, noch nicht ein einziges Mal, zum Vorschein gekommen, aber beim Alleinsein führt sie fast immer das Wort. Ich weiß genau, wie ich gerne sein würde, wie ich auch bin … von innen, aber leider bin ich das nur für mich selbst. Und das ist vielleicht, nein, ganz sicher, der Grund, warum ich mich selbst eine glückliche Innennatur nenne und andere Menschen mich für eine glückliche Außennatur halten. Innerlich weist die reine Anne mir den Weg, äußerlich bin ich nichts als ein vor Ausgelassenheit sich loßreißendes Geißlein.“

(Quelle: Anne Frank: Tagebuch, Frankfurt/M. 2001, S. 312)

Als ich diese Tagebucheintragung mit Annes Gefühlen und Sehnsüchten las, die sich in ihrer Erkenntnis „Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt“ widerspiegeln, ist mir spontan Bonhoeffers Gedicht „Wer bin ich? eingefallen, das er am 16. Juli 1944 im Gefängnis Berlin Tegel verfasste. In diesem wird deutlich, das andere Menschen ihn als eine souveräne Person wahrnehmen und dass er Sehnsucht nach Freiheit und Leben hat:

„Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest,
wie ein Gutsherr aus seinem Schloß.

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich spräche mit meinen Bewachern
frei und freundlich und klar,
als hätte ich zu gebieten.

Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des Unglücks
gleichmütig, lächelnd und stolz,
wie einer, der Siegen gewohnt ist.

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf große Dinge,
ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?

Wer bin ich? Der oder jener?
Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?
Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler
und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?

Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,
das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?
Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!“

(Quelle: Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung, Dietrich-Bonhoeffer-Werke Band 8, S. 513 – 514)

Dietrich und Anne hatten in ihrer Situation des Eingesperrtseins große Sehnsucht nach ihren Müttern. Am Christtag, 24. Dezember 1943 schreibt Bonhoeffer an seine Eltern: „Liebe Eltern! Weihnachten ist vorüber. Es hat mir ein paar stille, friedliche Stunden gebracht und vieles Vergangene war ganz gegenwärtig. Die Dankbarkeit dafür, daß Ihr und alle Geschwister in den schweren Luftangriffen bewahrt worden seid, und die Zuversicht, Euch in nicht zu ferner Zeit in Freiheit wiederzusehen, war größer als alles Bedrückende. Ich habe mir Eure und Maria’s Kerzen angezündet und die Weihnachtsgeschichte und einige schöne Weihnachtslieder gelesen und vor mich hingesummt … Nun werde ich auch an Deinem Geburtstag, liebe Mama [30.12.1943] noch nicht bei Euch sein … Ich kann Dir nur sagen, daß wir Dich in diesen schweren Zeiten mehr denn je brauchen und daß ich mir die vergangenen Monate meiner Haftzeit überhaupt nicht ohne Dich denken kann … Auch das neue Jahr wird noch manche Sorge und Unruhe bringen, aber … wir dürfen in dieser Silvesternacht doch mit größerer Zuversicht denn je den Vers aus dem alten Neujahrslied singen und beten [Evangelisches Gesangbuch 58: Nun lasst uns gehn und treten]: ‚Schleuß zu die Jammerpforten und laß an allen Orten nach so viel Blutvergießen die Freudenströme fließen.‘ Ich wüßte nicht, was wir uns Größeres auch zu Deinem Geburtstag erbitten und wünschen können.“ (Quelle: Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung, Dietrich-Bonhoeffer-Werke Band 8, S. 263 – 265)   

Fragen zum Nachdenken:

  • Was weißt Du von Anne Frank?
  • Hast Du einmal in ihrem Tagebuch gelesen?
  • Welche Worte der oben genannten Tagebucheintragungen haben dich berührt?
  • Siehst Du Parallelen zwischen den Worten in Anne Franks Tagebucheintragungen und Bonhoeffers Gedicht und Brief an seine Eltern?
  • Wann und warum hattest Du schon einmal das Gefühl „Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt“?
  • Was würdest Du zu der Frage Bonhoeffers „Wer bin ich?“ schreiben?
  • Welche Bedeutung hat bzw. hatte Deine Mutter für Dich?
  • Was wird das neue Jahr 2026 für die Welt und für Dich bringen?

Lesen wir bis zum Rundbrief Jänner 2026: Psalm 80; Matthäus-Evangelium, Kapitel 10, die Verse 16 – 26.   

Liebe Grüße, Euer Obmann Uwe