Rundbrief 2025-10 Rüdiger Schleicher
HAPAX und ein herzliches Hallo zum Rundbrief Oktober 2025!
Dietrich Bonhoeffers Eltern Paula (1876 – 1951) und Karl Bonhoeffer (1868 – 1945) verloren vier Familienmitglieder durch ihren Widerstand gegen das NS-Regime: ihre beiden Söhne Klaus (1901 – 1945) und Dietrich (1906 – 1945), ihre Schwiegersöhne Hans von Dohnanyi (1902 – 1945, war verheiratet mit Dietrichs Schwester Christine) und Rüdiger Schleicher (1895 – 1945, war verheiratet mit Dietrichs Schwester Ursula).
Rüdiger Schleicher wurde am 14. Jänner 1895 in Stuttgart geboren. Er heiratete am 15. Mai 1923 Ursula Bonhoeffer, mit der er drei Töchter (Renate, 1925 – 2019; Dorothee, geboren 1928; Christine, 1930 – 2017) und einen Sohn (Hans-Walter, 1924 - 2012) hatte. Ihre Tochter Renate heiratete 1943 Eberhard Bethge, den besten Freund Bonhoeffers. Ihr gemeinsamer Sohn Dietrich ist das Patenkind Bonhoeffers. Er lebt in London und besuchte unseren Verein im Oktober 2023. Rüdiger Schleicher war Jurist und Experte für Luftrecht. Er wurde am 4. Oktober 1944 verhaftet und im Berliner Gefängnis Lehrter Straße inhaftiert, da die Gestapo in Zossen (Stadt in Brandenburg) Akten entdeckte, die sein Wissen von den Umsturzplänen der Verschwörer vom 20. Juli 1944 bewiesen. Am 2. Februar 1945 wurde Schleicher zum Tode verurteilt. Mit zwölf Mitgefangenen, darunter sein Schwager Klaus Bonhoeffer, wurde er am 23. April 1945 auf einem Ruinengelände in der Nähe des Gefängnisses erschossen. Auf dem Pragfriedhof seines Geburtsortes Stuttgart erinnert eine Gedenktafel mit der Inschrift „Er starb für Freiheit und Recht“ an ihn. Das Haus der Familie Schleicher lag in umittelbarer Nähe des Hauses der Familie Bonhoeffer. Im Hause Schleicher verbrachte Dietrich seine letzten Stunden in Freiheit, bevor er dort am 5. April 1943 verhaftet wurde.
Schleichers Sohn Hans-Walter beschreibt seinen Vater: „Als am 30. Januar 1933 die Nationalsozialisten in Deutschland die Macht ergriffen, kommentierte mein Vater dieses Ereignis mit den Worten: ‚Das bedeutet Krieg!‘ … Für [ihn] bestand von Anfang an kein Zweifel an der Skrupellosigkeit und Gefährlichkeit der nationalsozialistischen Bewegung, und er mußte daher das neue Regime zutiefst ablehnen. Diese Einstellung … war für ihn eine Sache des Gewissens und der Gerechtigkeit; sie hat ihn schließlich in den Widerstand geführt … In der Zeit seines ersten Berliner Aufenthaltes fiel die Eheschließung mit Ursula Bonhoeffer, die ihm … einen neuen Kreis von Menschen erschloß, der für sein späteres Schicksal entscheidende Bedeutung erlangen sollte … [Er] war Jurist und Beamter von großer Hingabe und hohem Verantwortungsbewußtsein … Ein Staatsdiener von einer solchen Staats- und Pflichtauffassung mußte beim Hereinbrechen der Diktatur in schwere Konflikte kommen … [Seine] Parteizugehörigkeit [gemeint ist die NSDAP] wurde später im Todesurteil als besonders gravierender Umstand bewertet. Trotzdem hat mein Vater auch danach noch geäußert, daß er zu dem damaligen Schritt stehe, weil er es ihm ermöglicht habe, manchen Bedrängten zu helfen … Er war ein bewußter, doch liberaler Christ, der es sich mit seinem Glauben nicht leicht gemacht hat … Mißtrauen gegenüber seinem Mitmenschen lag seinem Wesen fern … Ganz besondere Bedeutung hatte für meinen Vater die Musik ... Er besaß das absolute Gehör, spielte gut Geige und liebte es vor allem, in der Familie oder mit guten Freunden Kammermusik zu machen … Der Bonhoeffersche Familienkreis war in seiner Vielfalt und zugleich inneren Geschlossenheit wohl einzigartig. Alle wissenschaftlichen Fakultäten waren vertreten … [Es] bestanden über die gleiche demokratische Grundeinstellung keinerlei Zweifel, und die Nazis wurden schon ganz früh durchschaut und abgelehnt …; gefährdet waren alle. Rüdiger Schleicher war nicht aktiv an Plänen zum unmittelbaren Vollzug des Umsturzes beteiligt. Er wußte aber von solchen Plänen … Er ließ sich in die Vorbereitungen für die Verwaltung nach einem gelungenen Umsturz einbeziehen … Im Oktober 1944 wurde [er] verhaftet … In den Verhören hat er die Entrechtung und Verfolgung der Juden, das Vorgehen gegen die Kirche und gegen Staatsfeinde und die Errichtung der Konzentrationslager als entscheidende Motive für seinen Widerstand bezeichnet …“ (Quelle: Rüdiger Schleicher, in: Eberhard und Renate Bethge (Hg.): Letzte Briefe im Widerstand. Aus dem Kreis der Familie Bonhoeffer, München 1984, S. 15 – 23)
Am 13. April 1945 schreibt er in seinem letzten Brief aus dem Gefängnis an seine Frau Ursula: „Zunächst hab Dank für Deine Liebe, die mich auf Schritt und Tritt umgibt und auch innerlich stärkt in meinem Dasein, das Bewußtsein, daß Du da bist und mir hilfst, gibt mir die größte Kraft. Hoffentlich geht nicht alles über Deine Kraft … Und doch müssen wir froh und dankbar sein, daß alles bisher noch so gegangen, und mit Dir bin ich zugleich des festen Glaubens, daß alles noch gut werden wird und daß die jetzige Zeit für mich nicht vergeblich gewesen ist … Hans Walters Brief ist übrigens ganz reizend und zeugt von großer Reife … Du selbst laß Dich zärtlich umarmen …“
(Quelle: Rüdiger Schleicher, in: Eberhard und Renate Bethge (Hg.): Letzte Briefe im Widerstand. Aus dem Kreis der Familie Bonhoeffer, München 1984, S. 37 f.)
In Bonhoeffers berühmtestem Buch „Widerstand und Ergebung“ sind zwei Briefe Rüdiger Schleichers an Dietrich Bonhoeffer überliefert, die er in Freiheit geschrieben hat. Antworten Bonhoeffers auf diese beiden Briefe sind in seinem Buch nicht überliefert. Am 29. April 1943 schreibt er: „Das Osterfest [Ostersonntag war am 25. April] ist vorbei und der Alltag hat wieder sein Recht. Du hast uns in diesen Tagen sehr gefehlt … unsere Gedanken [sind] bei dir. Wenn ich auch weiß, daß Du selber Kraft genug hast, um allen Schwierigkeiten und Fährnissen des Lebens gewachsen zu sein, so will ich Dir das doch auch einmal zum Ausdruck bringen. Hoffen und wünschen möchte ich, daß Du bald das immer schönere Frühjahr wieder in Freiheit genießen kannst … Bleib gesund und guter Dinge …“ (Quelle: Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung, Dietrich-Bonhoeffer-Werke Band 8, S. 54.)
Am Karfreitag, 7. April 1944 schreibt er: „Voll guter Wünsche gedenken wir Deiner in diesen Tagen. Heute früh waren wir bei Walter Dreß [1904 – 1979, ev. Pfarrer und Ehemann von Bonhoeffers Schwester Susanne] in der Annenkirche [steht in Berlin- Dahlem]; es war ein guter Gottesdienst und seine Predigt gefiel mit sehr gut … Morgen Nachmittag [Karsamstag, 8. April 1944] wollen wir die Matthäuspassion in der Marienkirche [Berlin-Mitte] hören … Wann werden wir alle zusammen wieder miteinander singen und musizieren können? Laß Dir’s recht gut gehen …, bleib gesund und guter Dinge …“ (Quelle: Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung, Dietrich-Bonhoeffer-Werke Band 8, S. 377 - 379)
Am 8. Oktober 1944 wurde Bonhoeffer vom Gefängnis Berlin-Tegel in das berüchtigte Gefängnis in der Berliner Prinz-Albrecht-Straße überführt. Vorher schrieb er sein Gedicht „Jona“. Dieses Gedicht entstand, als er die Hoffnung auf seine Freiheit und auf die seines Bruders Klaus (verhaftet am 1. Oktober 1944), seiner Schwager Rüdiger Schleicher (verhaftet am 4. Oktober 1944) und Hans von Dohnanyi (verhaftet am 5. April 1943) aufgab und sich wie der alttestamentliche Prophet Jona gefühlt haben dürfte, der über Bord geworfen und kurz vor dem Versinken war, aber durch Gottes Hand gerettet wurde und sich dann in dieser geborgen fühlte:
„Sie schrieen vor dem Tod, und ihre Leiber krallten sich an den nassen, sturmgepeitschten Tauen, und irre Blicke schauten voller Grauen das Meer im Aufruhr jäh entfesselter Gewalten.
‚Ihr ewigen, ihr guten, ihr erzürnten Götter, helft oder gebt ein Zeichen, das uns künde
den, der euch kränkte mit geheimer Sünde, den Mörder oder Eidvergeß‘nen oder Spötter,
der uns zum Unheil seine Missetat verbirgt um seines Stolzes ärmlichen Gewinnes!‘
So flehten sie. Und Jona sprach: ‚Ich bin es! Ich sündigte vor Gott. Mein Leben ist verwirkt.
Tut mich von euch! Mein ist die Schuld. Gott zürnt mir sehr. Der Fromme soll nicht mit dem Sünder enden!‘ Sie zitterten. Doch dann mit starken Händen verstießen sie den Schuldigen. Da stand das Meer.“
(Quelle: Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung, Dietrich-Bonhoeffer-Werke Band 8, S. 606)
Fragen zum Nachdenken:
- Hast Du von Rüdiger Schleicher gewusst? Was weißt Du über ihn?
- Hast Du wie Schleicher kein Misstrauen zu anderen Menschen?
- Hast Du wie Schleicher auch den festen Glauben, dass alles in der Welt oder in Deinem Leben gut werden wird und dass die jetzige Zeit für Dich nicht vergeblich ist?
- Was bedeutet Bonhoeffers Gedicht „Jona“ für Dich?
Lesen wir bis zum Rundbrief November 2025: Psalm 78; Matthäus-Evangelium, Kapitel 10, die Verse 1 – 4.
Liebe Grüße, Euer Obmann Uwe