Rundbrief 2016-07 Seminar über Dietrich Bonhoeffer
HAPAX und ein herzliches Hallo zum Rundbrief Juli 2016!
Im Sommersemester 2016 habe ich an der kath. Fakultät (!) der Universität Graz ein Seminar über Bonhoeffer belegt. Daher war ich bei unseren monatlichen Versammlungen im Mai und Juni 2016 nicht anwesend. In der letzten Stunde des Seminares (29. Juni 2016) habe ich ein Referat gehalten, das Grundlage des Juli-Rundbriefes ist. Abschnitt 5 ist der Film „Brandauer begegnet Bonhoeffer“, den wir auf unserer Gründungsversammlung am 9. April 2015 gesehen haben. Dieser Film schloss die letzte Seminarstunde und auch das ganze Seminar.
Lesen wir bis zum nächsten Rundbrief im August 2016:
Psalmen 37 – 39; Matthäus 7, 24 – 29
Beste Grüße, Euer Obmann Uwe
Seminar: „Dietrich Bonhoeffer (1906 – 1945) – den christlichen Glauben für die Zukunft denken“ an der kath. Fakultät der Universität Graz im Sommersemester 2016 unter der Leitung von Prof. Dr. Bernhard Körner
- Das „Jeremia-Motiv“ – mein persönlicher Zugang zu Bonhoeffer
- Der Hinrichtungsprozess Bonhoeffers im KZ Flossenbürg
- War Bonhoeffer ein Heiliger und ein Märtyrer?
- Die Rezeption Dietrich Bonhoeffers nach 1945
- Film (DVD): Wer hält stand? Klaus Maria Brandauer begegnet Dietrich Bonhoeffer, ORF 2013.
- Das „Jeremia-Motiv“ – mein persönlicher Zugang zu Bonhoeffer
Dietrich Bonhoeffer war von 1933 – 1935 Pfarrer von zwei deutschen evangelischen Gemeinden in London. Diese Pfarrstellen blieben seine einzigen. Am 21. Jänner 1934 (3. Sonntag nach Epiphanias) hat er eine Predigt über Jeremia 20,7 gehalten: „Herr, du hast mich überredet und ich habe mich überreden lassen. Du bist mir zu stark gewesen und hast gewonnen.“ (Lutherbibel)
Auszug aus der Predigt:
„Jeremia hat sich nicht dazu gedrängt, Prophet Gottes zu werden. Er ist zurückgeschaudert, als ihn plötzlich der Ruf traf, er hat sich gewehrt, er wollte ausweichen – nein, er wollte dieser Gottes Prophet und Zeuge nicht sein – aber auf der Flucht packt ihn, ergreift ihn das Wort, der Ruf; er kann sich nicht mehr entziehen, es ist um ihn geschehen, oder, wie es einmal heißt, der Pfeil des allmächtigen Gottes hat das gehetzte Wild erlegt. Jeremia ist sein Prophet. Von außen her kommt es über den Menschen, nicht aus der Sehnsucht seines Herzens, nicht aus seinen verborgensten Wünschen und Hoffnungen steigt es herauf; das Wort, das den Menschen stellt, packt, gefangen nimmt, bindet, kommt nicht aus den Tiefen unserer Seele, sondern es ist das fremde, unbekannte, unerwartete, gewalttätige, überwältigende Wort des Herrn, der in seinen Dienst ruft, wen und wann er will. Da hilft kein Widerstreben, sondern da heißt Gottes Antwort: Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleib bereitete. Du bist mein. Fürchte dich nicht! Ich bin dein Gott, der dich hält. Und dann ist dies fremde, ferne, unbekannte, gewalttätige Wort auf einmal das uns schon so unheimlich wohlbekannte, unheimlich nahe überredende, betörende, verführende Wort der Liebe des Herrn, den es nach seinem Geschöpf verlangt. Dem Menschen ist ein Lasso über den Kopf geworfen und nun kommt er nicht mehr los. Versucht er zu widerstreben, so spürt er erst recht, wie unmöglich das ist; denn das Lasso zieht sich nur enger und schmerzhafter zusammen und erinnert ihn daran, daß er ein Gefangener ist. Er ist Gefangener, er muß folgen. Der Weg ist vorgeschrieben. Es ist der Weg des Menschen, den Gott nicht mehr los läßt, der Gott nicht mehr los wird. Das heißt aber auch, der Weg des Menschen, der nie mehr – im Guten oder Bösen – gott-los wird. Und dieser Weg führt mitten in die tiefste menschliche Schwachheit hinein. Ein verlachter, verachteter, für verrückt erklärter, aber für Ruhe und Frieden der Menschen äußerst gefährlicher Narr – den man schlägt, einsperrt, foltert und am liebsten gleich umbringt – das ist dieser Jeremia eben, weil er Gott nicht mehr loswerden kann. Phantast, Sturkopf, Friedensstörer, Volksfeind hat man ihn gescholten, hat man zu allen Zeiten bis heute die gescholten, die von Gott besessen und gefaßt waren, denen Gott zu stark geworden war. Wie gern hätte er mit den anderen Friede und Heil geschrien, wo doch Unfriede und Unheil war…Tausende von Gemeindegliedern und Pfarrern sind heute in unserer Heimatkirche in der Gefahr der Unterdrückung und Verfolgung um ihres Zeugnisses für die Wahrheit willen…, weil Gott in ihnen zu stark geworden war…, weil sie nicht mehr zurück konnten hinter Gottes Wort, Gottes Ruf, Gottes Befehl…Von Gott nicht mehr loskommen können, das ist die dauernde Beunruhigung jedes christlichen Lebens. Wer sich einmal auf ihn einließ, wer sich einmal von ihm überreden ließ, der kommt nicht mehr los…Von Gott nicht mehr loskommen, das bedeutet viel Angst, viel Verzagtheit, viel Trübsal, aber bedeutet doch auch im Guten und im Bösen nie mehr gott-los sein können. Es bedeutet: Gott mit uns auf allen unseren Wegen, im Glauben und in der Sünde, in Verfolgung, Verspottung und Tod…“
In dieser Predigt wird sehr deutlich, dass Bonhoeffer zwar über den Propheten Jeremia redet, aber sich selbst meint. So wie die alttestamentlichen Propheten (Jeremia, Micha, Amos etc.) nicht durch die Befragung eines Orakels oder durch Ekstase, sondern durch die unmittelbare Berufung durch Gott berufen wurden, so wurde auch Bonhoeffer nicht durch ein Gefühl oder ein Wort aus den Tiefen der menschlichen Seele, sondern allein durch Gottes Wort, das den Menschen von außen ergreift, berufen. Diese Berufung durch das von außen kommende Wort Gottes oder durch den Ruf Gottes spüre auch ich für meinen Dienst als Pfarrer. Manchmal frage ich mich, warum Gott ausgerechnet mich als Pfarrer braucht, aber letztendlich ist Gott mir zu stark, so dass ich nicht anders kann. In der Londoner Jeremia-Predigt wird deutlich, dass Bonhoeffer sein Geschick im Licht der alttestamentlichen Propheten verstanden hat, die nicht anders konnten, als Gottes Wort in die von Gott abgewandte Welt zu verkünden. Bonhoeffer schrieb seine Predigt vier Tage vor dem Empfang der Führer der am Kirchenkampf beteiligten Gruppen bei Hitler und machte dadurch klar, worin seine Berufung mündet, nämlich in seinem Eintreten für Gottes Gottsein, seinem Gehorsam gegenüber Gottes Wort und Gebot und seiner Nachfolge mit Leiden. Diese Auswirkungen von Bonhoeffers Berufung könnte auch eine wichtige Grundlage für alle gegenwärtigen christlichen Theologen und Theologinnen sein, denn schließlich haben diese eine hohe Aufgabe, Gottes Wort in einer zunehmend säkularisierten Welt zu verkünden.
- Der Hinrichtungsprozess Bonhoeffers im KZ Flossenbürg
Am Morgen des Sonntags, 8. April 1945 (weißer Sonntag) feierte Bonhoeffer mit anderen Mitgefangenen in einem Schulsaal des bayrischen Ortes Schönberg einen Gottesdienst und predigte über die Tageslosung aus Jesaja 53 ,5: „Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten und durch seine Wunden sind wir geheilt“ (Lutherbibel) und über den Lehrtext des Tages aus 1. Petrus 1, 3: „Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns nach seiner großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten.“ (Lutherbibel)
Am Abend erreichten die Gefangenen das KZ Flossenbürg in Bayern. Im Morgengrauen des 9. April 1945 wurden Bonhoeffer, Generalmajor Hans Oster, Heereschefrichter Karl Sack, Hauptmann Ludwig Gehre Reichsgerichtsrat Hans von Dohnanyi und Generaladmiral Wilhelm Canaris hingerichtet. Auf Befehl Hitlers waren für den Prozess und für die Hinrichtung der SS-Richter Dr. Otto Thorbeck, der SS-Standartenführer Walter Huppenkothen, der Lagerkommandant Max Koegel und der Lagerarzt Dr. Hermann Fischer verantwortlich.
Der SS-Richter Dr. Otto Thorbeck (1912 – 1976) und der SS-Standartenführer Walter Huppenkothen (1907 – 1978) wurden erst am 15. Oktober 1955 von einem Schwurgericht in Augsburg wegen Beihilfe zum Mord zu vier bzw. sieben Jahren Zuchthaus verurteilt. Am 19. Juni 1956 wurden beide vom Bundesgerichtshof in einem Revisionsurteil vom Vorwurf der Beihilfe zum Mord wieder frei gesprochen! Begründung: „Einem Richter, der damals einen Widerstandskämpfer wegen seiner Tätigkeit in der Widerstandsbewegung abzuurteilen hatte und ihn in einem einwandfreien Verfahren für überführt erachtete, kann heute in strafrechtlicher Hinsicht kein Vorwurf gemacht werden, wenn er angesichts seiner Unterworfenheit unter die damaligen Gesetze glaubte, die Gefangenen des Hoch- und Landesverrats bzw. des Kriegsverrats schuldig erkennen und deswegen zum Tode verurteilen zu müssen.“ Damit waren die Akteure des Widerstandes zu Verbrechern erklärt worden, die Angeklagten dagegen wurden zu Akteuren einer als gerecht erachteten NS-Justiz erklärt.
Der Lagerkommandant Max Koegel (1895 – 1946) versuchte nach dem zweiten Weltkrieg unterzutauchen, wurde aber von den Amerikanern entdeckt und verhaftet. Im Juni 1946 erhängte er sich in seiner Nürnberger Gefängniszelle.
Der Lagerarzt Dr. Hermann Fischer (1883 – 1955) berichtete über die letzten Augenblicke im Leben Bonhoeffers: „Am Morgen des betreffenden Tages etwa zwischen 5 und 6 Uhr wurden die Gefangenen….aus den Zellen geführt und die kriegsgerichtlichen Urteile verlesen. Durch die halbgeöffnete Tür eines Zimmers im Barackenbau sah ich vor Ablegung der Häftlingskleidung Pastor Bonhoeffer in innigem Gebet mit seinem Herrgott knien. Die hingebungsvolle und erhörungsgewisse Art des Gebetes dieses außerordentlichen sympathischen Mannes hat mich auf das Tiefste erschüttert. Auch an der Richtstätte selbst verrichtete er noch ein kurzes Gebet und bestieg dann mutig und gefaßt die Treppe zum Galgen. Der Tod erfolgte nach wenigen Sekunden. Ich habe in meiner fast 50-jährigen ärztlichen Tätigkeit kaum je einen Mann so gottergeben sterben sehen.“
Seine Worte stimmen nicht und sind eine Lüge. Diese schönen Worte wollen nur seine eigentliche Aufgabe als Lagerarzt vertuschen und verharmlosen, nämlich die medizinische Versorgung der KZ-Personals und nicht der Gefangenen, das Fälschen der Todesurkunden mit den Todesursachen der Gefangenen und das Herausreißen von Goldzähnen der toten Gefangenen. Außerdem gab es im KZ keinen Galgen mit einer Treppe, sondern lediglich Haken, an denen die Gefangenen qualvoll aufgehängt wurden. Bonhoeffer wurde wahrscheinlich von seinen zynischen Henkern gequält und starb daher auch nicht leicht und schnell. Bonhoeffers Leiche wurde nicht im Krematorium des KZ, sondern an einem unbekannten Ort im KZ verbrannt.
Glaubwürdig dürften aber Aufzeichnungen eines Mitgefangenen Bonhoeffers sein, der den Terror im KZ überlebt hat. Es war der britische Geschäftsmann und Geheimagent Payne Best. Er wurde aber von der Gestapo enttarnt, verhaftet und bei der niederländischen Grenzstadt Venlo in das deutsche Reich entführt. In seinem Buch „The Venlo Incident“ sind die letzten Wort Bonhoeffers überliefert: „Das ist das Ende – für mich der Beginn des Lebens.“
Was Dietrich Bonhoeffer in seinen letzten Stunden und Minuten gebetet, gedacht und gehofft hat, weiß letztendlich niemand. Bonhoeffer wusste sicherlich, dass nicht das leichte Sterben, sondern das in Christus getroste Sterben den Christen auszeichnet. Daher schreibt er in seinem Gefängnisgedicht „Stationen auf dem Weg zur Freiheit“: „Komm nun, höchstes Fest auf dem Wege zur ewigen Freiheit, Tod, leg nieder beschwerliche Ketten und Mauern unsres vergänglichen Leibes und unsrer verblendeten Seele, daß wir endlich erblicken, was hier uns zu sehen mißgönnt ist. Freiheit, die suchten wir lange in Zucht und in Tat und in Leiden. Sterbend erkennen wir nun im Angesicht Gottes dich selbst.“
- War Bonhoeffer ein Heiliger und ein Märtyrer?
In der Ökumene wurde Bonhoeffer nach seiner Ermordung als Märtyrer angesehen. In Deutschland und in Bonhoeffers eigener Kirche war das völlig anders. Wegen seiner Beteiligung an den Umsturzvorbereitungen gegen Hitler galt er noch lange nach Kriegsende als Landesverräter. Evangelische Pfarrer sprachen sich dagegen aus, dass Straßen, Kirchen und Häuser nach Bonhoeffer benannt werden und manche Bischöfe evangelischer Kirchen nahmen bewusst an Gottesdiensten zu seinem Gedenken nicht teil. Am 21. Juli 1944 (einen Tag nach dem gescheiterten Attentat an Hitler!) schreibt Bonhoeffer aus der Haft an seinen Freund Eberhard Bethge: „Ich erinnere mich eines Gesprächs, das ich vor 13 Jahren in Amerika mit einem jungen französischen Pfarrer hatte. Wir hatten uns ganz einfach die Frage gestellt, was wir mit unserem Leben eigentlich wollten. Da sagte er: ich möchte ein Heiliger werden…Ich widersprach ihm und sagte: ich möchte glauben lernen…“ 1998 wurden an der Kirche von Westminster Abbey in London die Figuren von zehn Frauen und Männern aufgestellt, die als Märtyrer des 20. Jahrhunderts gelten. Neben Maximilian Kolbe (Franziskanermönch), Janani Luwum (anglikanischer Bischof in Uganda), Martin Luther King (amerikanischer Baptistenpastor und Bürgerrechtler), Oscar Romero (r. k. Erzbischof in El Salvador), Ester John (pakistanische Kranken-schwester), Manche Masemola (eine Jugendliche in Südafrika, die von ihren Eltern wegen ihres Glaubens an Jesus Christus ermordet wurde), Elisabeth von Hessen-Darmstadt (zunächst eine russische Adlige, dann eine russisch-orthodoxe Äbtissin), Lucian Tapidie (anglikanischer Lehrer in Papua Neuguinea), Wang Zhiming (chinesischer evang. Pfarrer) steht dort auch Dietrich Bonhoeffer mit einer aufgeschlagenen Bibel in der rechten Hand.
Im Artikel 21 des Augsburger Bekenntnisses von 1530 (lutherische Bekenntnisschrift) heißt es: „Über die Verehrung der Heiligen wird von den Unseren gelehrt, dass man der Heiligen gedenken soll, damit unser Glaube dadurch gestärkt wird, dass wir sehen, wie ihnen Gnade widerfahren und ihnen durch den Glauben geholfen ist. Außerdem soll man sich an ihren guten Werken ein Beispiel nehmen, jeder für seinen Lebensbereich.“ Daher sind in diesem Bekenntnis der evangelischen Kirche gute Gründe genannt, in Dietrich Bonhoeffer einen evangelischen Heiligen zu sehen.
Dietrich Bonhoeffer starb am 9. April 1945 im KZ Flossenbürg als Märtyrer. Wer ist ein Märtyrer? So fragt der katholische Moraltheologe Eberhard Schockenhoff und antwortet: „Die meisten Märtyrer des 20. und 21. Jahrhunderts starben nicht nur wegen ihres Bekenntnisses zum christlichen Glauben oder, wie in der Anfangszeit der Kirche, zum Namen Jesu, sondern wegen der Konsequenzen, die das Christsein für sie im öffentlichen Raume hatte. Sie starben als Märtyrer des Friedens und der Gerechtigkeit, als Märtyrer der Nächstenliebe und der Solidarität mit den Armen und Unterdrückten. Der Grund, warum sie mit den Mächtigen in Konflikt gerieten, war in der Regel nicht ihr religiöses Bekenntnis, zumindest nicht im Sinn eines formellen Anklagetitels, sondern ihre Bereitschaft, die mit ihrem Glauben verbundenen ethischen Konsequenzen mit äußerster Entschlossenheit ernst zu nehmen.“
Dietrich Bonhoeffer war ein solcher Märtyrer, der mit äußerster Entschlossenheit im öffentlichen Raum die hässlichen und mörderischen Fratzen der Nazis mit seinem tiefen Glauben an den lebendigen Gott anprangerte, weil diese mit den christlichen Werten wie Menschenrechte, Frieden und Gerechtigkeit nicht zusammen passten.
Ein solcher Märtyrer war auch der Jesuit Alfred Delp. Wie Dietrich Bonhoeffer wurde er von den Nazis verhaftet und in Berlin inhaftiert. Beide sind sich aber nie begegnet. In seinen Gefängnisschriften fordert Alfred Delp, dass die Kirchen sich entschlossen in den Dienst der Menschlichkeit stellen und sich für eine menschenwürdige Ordnung des gesellschaftlichen, sozialen und politischen Lebens einsetzen sollten
- Die Rezeption Dietrich Bonhoeffers nach 1945
Das Interesse an Dietrich Bonhoeffer begann nicht in Deutschland, sondern in London. Am 27. Juli 1945 feierten Georg Bell, Bischof der Church of England, und zwei Freunde Bonhoeffers, Franz Hildebrandt und Julius Rieger, in der Holy Trinity Brompton Church in London einen Gedenkgottesdienst für Bonhoeffer, der im englischen Radio zu hören war.
Bischof Bell sagte in seiner Predigt: „Er opferte seine menschlichen Aussichten, Heim, Freunde und berufliche Zukunft, weil er an Gottes Ruf für dieses Land glaubte. Er weigerte sich, jenen falschen Führern zu folgen, die die Diener des Teufels waren. Er wurde begeistert durch seinen Glauben an den lebendigen Gott und die Hingabe an Wahrheit und Ehre. So ist sein Tod, wie sein Leben, von tiefstem Wert im Zeugnis der Bekennenden Kirche…“
Und sein Freund Franz Hildebrandt sagte zum Schluss seiner Predigt: „Wir danken Gott für das Leben und Leiden unseres Bruders, dessen Zeugen und Freunde wir sein durften. Wir bitten ihn, daß er auch uns mit sich führe in seiner Nachfolge aus dieser Welt in sein himmlisches Reich; dass er wahrmache an uns jenes andere Wort, mit dem Dietrich seinen Nachruf auf Harnack [ev. Theologe in Berlin und ein Lehrer Bonhoeffers] schloß: Wie sollte der nicht fröhlich sein, der auf den Herrn hofft.“
Bereits zum Jahresende 1945 veröffentlichte der Ökumenische Rat der Kirchen unter der Leitung von Willem Visser’t Hooft einen Gedenkband mit dem Titel „Das Zeugnis eines Boten“ mit Texten aus Bonhoeffers Haft.
Vor allem in Deutschland hatte man große Schwierigkeiten mit Bonhoeffers politischem Widerstand, weil es ja zur Aufgabe und Pflicht eines Christen gehöre, dem Staat gehorsam zu sein, weil dieser seine Autorität von Gott bekommen hat. Daher wurde Bonhoeffer und auch die anderen Widerständler des 20. Juli 1944 als Vaterlandsverräter degradiert. Bonhoeffers engster Freund Eberhard Bethge verteidigte Bonhoeffer und sah seine Beteiligung am Widerstand als glaubwürdigen Ausdruck seines christlichen Glaubens.
1951 erschien das Buch „Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft“, das Eberhard Bethge herausgab. Bis heute berührt dieses Buch sehr viele Menschen, weil Bonhoeffer als Mahnmal für ein verantwortungsvolles Tun im Nationalsozialismus und als Vorbild für ein glaubwürdiges Christsein angesehen wird. Besonders seine fragmentarischen Ausführungen über eine mündige Welt, über die Notwendigkeit eines nichtreligiösen Christentums und seine Forderung nach einer neuen, befreienden kirchlichen Sprache werden bis heute diskutiert, weil diese Themen das Christsein von modernen Menschen unserer Zeit ernst nimmt.
1967 erschien die monumentale Bonhoeffer–Biographie von Eberhard Bethge mit dem Titel „Dietrich Bonhoeffer. Theologe – Christ – Zeitgenosse“. Eberhard Bethge ist bis heute der wichtigste Interpret Bonhoeffers. Ohne ihn wäre Bonhoeffer möglicherweise nur wenigen bekannt geworden oder in Vergessenheit geraten. 1971 folgte die Dissertation des katholischen Theologen Ernst Feil mit dem Titel „Die Theologie Dietrich Bonhoeffers. Hermeneutik – Christologie – Weltverständnis“. Dieses Buch legte den Grundstein für eine breite Aufnahme Bonhoeffers in der katholischen Theologie.
Bonhoeffer wird auch für eigene Anliegen und Interessen vereinnahmt. „Fromme“ kirchliche Kreise beziehen sich vorwiegend auf die Bücher „Nachfolge“ und „Gemeinsames Leben“. Kirchliche Kreise, die gesellschaftspolitische Themen diskutieren, beziehen sich eher auf die Bücher „Widerstand und Ergebung“ oder „Ethik“, so auch die schwarze und lateinamerikanische Befreiungstheologie und die Oppositionen in nichtdemokratischen Ländern.
In der ehemaligen DDR wurde Bonhoeffer mehr als in der BRD zu einer christlichen Leitfigur. Die evang. Kirche in der DDR ermahnte daher, gerade in einer sozialistischen Gesellschaft Verantwortung für Menschenrechte zu übernehmen. Der sozialistische Staat DDR vereinnahmte Bonhoeffer als antifaschistischen Widerstandskämpfer. Oppositionelle Gruppen fühlten sich durch Bonhoeffer zum Widerstand gegen die Ungerechtigkeiten in der DDR ermutigt.
1971 wurde die Internationale-Bonhoeffer-Gesellschaft, 1980 der Deutsche-Bonhoeffer-Verein und am 9. April 2015 zum 70. Todestag Bonhoeffers der Österreichische-Bonhoeffer-Verein gegründet. Alle drei Organisationen haben das Ziel, Bonhoeffer aus theologischer, kirchlicher und christlicher Perspektive zu pflegen und das Erbe Bonhoeffers für die Gegenwart fruchtbar zu machen.
Viele Texte Bonhoeffers eignen sich hervorragend für erbauliche Bücher, Poster, Postkarten, Kalender, Tassen, Kerzen etc. Außerdem wurde sein Leben in Theaterstücken, Romanen, Spielfilmen, Dokumentationen und Bildern in Szene gesetzt.
Im Evangelischen Gesangbuch findet sich das von Otto Abel vertonte Gedicht „Von guten Mächten“ unter der Nummer 65, im neuen kath. Gotteslob findet sich dieses Gedicht mit der Vertonung von Kurt Grahl unter der Nummer 430, aber auch die wohl bekannteste Vertonung von Siegfried Fietz unter der Nummer 897.
Vor allem in Deutschland tragen zahlreiche Straßen, Kirchen und Häuser den Namen von Dietrich Bonhoeffer. In Linz gibt es das evang. Dietrich-Bonhoeffer-Studentenwohnheim.
- Film (DVD): Wer hält stand? Klaus Maria Brandauer begegnet Dietrich Bonhoeffer, ORF 2013.
Literatur
Abschnitt 1:
- Bonhoeffers Predigt über Jeremia 20,7 in: DBW 13, Gütersloh 1994, SS. 347 – 351.
- Metaxas, Eric: Bonhoeffer. Pastor, Agent, Märtyrer und Prophet, Holzgerlingen 2011, besonders SS. 259 – 261.
- Zimmerling, Peter: Bonhoeffer als Praktischer Theologe, Göttingen 2016, besonders SS. 93 – 105.
Abschnitt 2:
- Best, Payne: The Venlo Incident, London, New York 2009, besonders S. 200.
- Bonhoeffers Gedicht „Stationen auf dem Weg zur Freiheit“ in: DBW 8, Gütersloh 1998, SS. 570 – 572.
- Mayer, Rainer: Dietrich Bonhoeffers Todesstunde. Was geschah wirklich? Forschungen im Anschluss am Jorgen Glenthoj, in: Theologische Beiträge 43, 2012, SS. 274 – 289.
Abschnitt 3:
- Ackermann, Josef: Dietrich Bonhoeffer – Freiheit hat offene Augen, Gütersloh 2005, besonders SS. 243 – 267.
- Tietz, Christiane: Dietrich Bonhoeffer. Theologe im Widerstand, München 2013, besonders SS. 122 – 134.
Abschnitt 4:
- Bethge, Eberhard (Hg.): Bonhoeffer Gedenkheft, Berlin 1947.
- Bünker, Michael: Dietrich Bonhoeffer – ein evangelischer Heiliger? Zur Erinnerung an den 70. Todestag von Dietrich Bonhoeffer, in: Amt und Gemeinde 65, Heft 2, 2015, SS. 108 – 110.
- Schockenhoff, Eberhard: Wer ist ein Märtyrer? Keine beliebige Ausweitung eines anspruchsvollen theologischen Begriffs, in: Herder Korrespondenz 69, 2015, SS. 173 – 177.
Abschnitt 5:
- Wer hält stand (Film)? Klaus Maria Brandauer begegnet Dietrich Bonhoeffer, ORF 2013.