Rundbrief 2024-12 Stille tief um uns
HAPAX und ein herzliches Hallo zum Rundbrief Dezember 2024!
Es ist der 19. Dezember 1944. Dietrich Bonhoeffer ist im berüchtigten Gestapo-Gefängnis in der Berliner Prinz-Albrecht-Straße inhaftiert und schreibt seinen letzten erhaltenen Brief an seine Verlobte Maria von Wedemeyer. Am Ende steht sein Weihnachtsgruß an sie, Eltern und Geschwister. Es sind Verse, die zu den berühmtesten Worten Bonhoeffers werden sollten und sind das letzte theologische Dokument Bonhoeffers. Es ist sein Gedicht „Von guten Mächten“, das er also vor 80 Jahren geschrieben hat.
„Ich bin froh, daß ich Dir zu Weihnachten schreiben kann … Es werden sehr stille Tage in unseren Häusern sein … je stiller es um mich herum geworden ist, desto deutlicher habe ich die Verbindung mit Euch gespürt … Es ist ein großes unsichtbares Reich, in dem man lebt und an dessen Realität man keinen Zweifel hat. Wenn es im alten Kinderlied von den Engeln heißt: ‚zweie die mich decken, zweie, die mich wecken, so ist diese Bewahrung am Abend und am Morgen durch gute unsichtbare Mächte etwas, was wir Erwachsene heute nicht weniger brauchen als die Kinder … Es ist nun fast 2 Jahre, daß wir aufeinander warten, liebste Maria. Werde nicht mutlos! … Hier noch ein paar Verse, die mir in den letzten Abenden einfielen. Sie sind der Weihnachtsgruß für Dich und die Eltern und Geschwister.
- Von guten Mächten treu und still umgeben behütet und getröstet wunderbar, - so will ich diese Tage mich euch leben und mit euch gehen in ein neues Jahr;
- noch will das alte unsre Herzen quälen noch drückt uns böser Tage schwere Last, Ach Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen das Heil, für das Du uns geschaffen hast.
- Und reichst Du uns den schweren Kelch, den bittern, des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand, so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern aus Deiner guten und geliebten Hand.
- Doch willst Du uns noch einmal Freude schenken an dieser Welt und ihrer Sonne Glanz, dann woll´n wir des Vergangenen gedenken, und dann gehört Dir unser Leben ganz.
- Laß warm und hell die Kerzen heute flammen, die Du in unsre Dunkelheit gebracht, führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen! Wir wissen es, Dein Licht scheint in der Nacht.
- Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet, so laß uns hören jenen vollen Klang der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet, all Deiner Kinder hohen Lobgesang.
- Von guten Mächten wunderbar geborgen erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen, und ganz gewiß an jedem neuen Tag.“
Sei mit Eltern und Geschwistern in großer Liebe und Dankbarkeit gegrüßt. Es umarmt Dich Dein Dietrich.“ (Quelle: Brautbriefe Zelle 92. Dietrich Bonhoeffer, Maria von Wedemeyer 1943 – 1945, München 1992, S. 208 – 210.)
Der evangelische Theologe, Pfarrer und Kirchenlieddichter Jürgen Henkys (1929 -2015) hat eine sehr ansprechende Interpretation und Erklärung von Bonhoeffers Gedicht „Von guten Mächten“ verfasst: „Hat Bonhoeffer ein Lied schreiben wollen? Die Bezifferung der Strophen könnte dafür sprechen … Das metrische Muster von vier jambischen Fünfhebern mit gekreuztem Reim und alternierendem weiblichen und männlichen Ausgang ist zwar in der deutschen Lyrik weit verbreitet … Doch im Kirchengesang der Tradition, mit der Bonhoeffer vertraut war, trifft man sie nicht an. So hat man damit zu rechnen, daß hier ein privates Gedicht, ein persönlich adressierter Weihnachts- und Neujahrswunsch, ins Gesangbuch gekommen … Gute Mächte um mich - und so ich mit euch. Das ist die eröffnende Botschaft des Gedichtes … Gute Mächte um uns – und wir getrost, weil Gott bei uns bleibt. Das ist das Ziel des ganzen Gedichtes … Wie kann der Autor, der doch der Willkür böser Mächte preisgegeben war, von guten Mächten sprechen? … [Es] ließe sich aus dem Umgang des Häftlings mit den Psalmen leicht zeigen, daß er dabei an diejenige Wirklichkeit dachte, die biblische Rede dem Wirken Gottes durch Engel vorbehält … So betrachtet, ist Von guten Mächten ein Engellied. Die es heute singen, wissen das allerdings kaum … Wenn der von … bösen Mächten umgebene Bonhoeffer die biblischen Engel als die verborgen wirkenden und in seiner eigenen Geschichte erfahrbaren guten Mächte deutet, dann gibt er … einen neuen Zugang zu fremd gewordener Glaubens-überlieferung frei … der erste Vers von Strophe 1 ist durch die … Wendung für die Engel ausgezeichnet … Darüber hinaus lebt die Zeile auch von einer geheimen Berührung mit Psalm 139,5: ‚Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir‘ … Bonhoeffer gibt schon mit den ersten Versen dem ganzen Gedicht die Richtung auf Seelsorge mit … Strophe 2: Die schlimme Gegenwart wird nicht weggeschoben. Sie kommt ins Wort. Die guten Mächte haben es mit quälender Gegenmacht, mit dem lastenden Druck böser Tage zu tun. Es sind die Tage des alten Jahres, und insofern stehen sie unter dem zeitlichen Vorbehalt des noch. … [Strophe 3]: Gottes Heil ist nicht mit Glückhaben zu verwechseln. Es schließt die Wendung zum Schlimmeren nicht aus … [Es ist] die Gewissheit eingeflossen, Gott werde die Bitte, den aufgeschreckten Seelen schon jetzt sein Heil zuzuwenden, in jedem Fall erhören, auch im schlimmen Fall. Das Gebet steht und fällt nicht mit der Abwendung des Übels. Allerdings ist die aufs Diesseitige gerichtete Hoffnung der Betenden ebenfalls im Recht … Ohne diese Hoffnung hätte das Christsein seinen irdischen Geschmack und damit auch Dankbarkeit und Verantwortung für die Welt verloren … [Strophe 4]: Der jetzt noch Gefangene erhofft für sich und die Seinen den prallen Reichtum des Daseins. Die dann zur Vergangenheit gewordenen Leiden … bleiben im Gedenken gegenwärtig und machen mit allem Neuen zusammen die Ganzheit der wiederlangten irdischen Existenz aus – im Dank … Strophe 5: Die Kerzen … sind Sinnbbild für Gottes Licht und für seinen Einzug in die verfinsterte Welt. Der dringlichste Weihnachtswunsch darf ausgesprochen werden: Bring … wieder uns zusammen … Strophe 6 lehrt, den Klang der Welt wahrzunehmen … Im … Nicaenum [Glaubensbekenntnis, das vom ersten ökumenischen Konzil im Jahre 325 nach Christus in Nicäa - liegt in der heutigen Türkei - verfasst wurde] wird bekannt, daß Gott‚ die sichtbare und die unsichtbare Welt‘ geschaffen habe. Unsichtbar ist die Welt, aus der Engel kommen. Der hohe Lobgesang meint dann auch das Ehre sei Gott in der Höhe, den Gesang der himmlischen Heerscharen in der Weihnachtsgeschichte … Strophe 7 bringt eine … Änderung der Sprechrichtung. Das ich – ihr in Strophe 1 steht für die dialogische Ebene des Gesprächs, das wir – Du in den Strophen 2 – 6 für die theologische Ebene des Gebets. In der Schlussstrophe heißt es dagegen: wir – Gott … Gott ist bei uns, so sind wir geborgen, und was da kommen mag, erwarten wir getrost … Am Ende des sprachlichen Weges findet ein inmitten tödlicher Bedrohung festgehaltener unglaublicher Glaube den reinen, den unaufwändig einfachen Ausdruck, der seither zahllose Leser angerührt hat … Vielleicht gibt es keine andere geistliche Dichtung seit dem Zweiten Weltkrieg, die sich so im allgemeinen Fundus der Sentenzen, Leit- und Lebenssprüche eingenistet hat wie die Schlussstrophe Von guten Mächten wunderbar geborgen … Die Zahl der gedruckten Vertonungen dürfte irgendwo zwischen 25 und 50 liegen … In Deutschland konkurrieren die Melodien von Otto Abel (1959) [deutscher Kirchenmusiker, 1905 – 1977] und Siegfried Fitz (1970) [christlicher Liedermacher, geboren 1946].“ (Quelle: Jürgen Henkys: Von guten Mächten treu und still umgeben, in: Hansjakob Becker u. a. (Hg.): Geistliches Wunderhorn. Große deutsche Kirchenlieder, München 2001, S. 452 – 461.)
Fragen zum Nachdenken:
- Welche Strophe des Gedichtes spricht Dich besonders an?
- Welche Vertonungen bzw. Melodien kennst Du?
- Welche Vertonung passt besser zu den Aussagen des Gedichtes – die von Abel oder die von Fietz?
- Welche Aussagen der Interpretation von Jürgen Henkys sprechen Dich an?
- Zu welchen Anlässen hast Du das Gedicht gesprochen bzw. gesungen?
Lesen wir bis zum Rundbrief Jänner 2025: Psalm 139, dessen Worte Bonhoeffer wahrscheinlich in der Strophe seines Gedichtes vor Augen hatte; Matthäus-Evangelium, Kapitel 8, die Verse 18 – 21.
Liebe Grüße, Euer Obmann Uwe