Rundbrief 2024-11 Zivilcourage, Mut, Anstand
HAPAX und ein herzliches Hallo zum Rundbrief November 2024!
Im September 2024 sprach die Journalistin und evangelische Theologin Renata Schmidtkunz in ihrer Ö1-Sendereihe „Im Gespräch“ mit Klaus von Dohnanyi. Er wurde am 23. Juni 1928 in Hamburg geboren. Seine Eltern waren Christine von Dohnanyi, geborene Bonhoeffer (1903 – 1965, Dietrichs Schwester) und der Jurist Hans von Dohnanyi (1902 – 1945, Dietrichs Schwager), der am 9. April 1945 im KZ Sachsenhausen von den Nazis ermordet wurde.
Der mittlerweile 96-jährige Neffe Dietrich Bonhoeffers studierte Jura, trat 1957 der SPD bei, war von 1972 bis 1974 Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, war von 1969 bis 1981 Mitglied des Deutschen Bundestags und war von 1981 bis 1988 Erster Bürgermeister der Hansestadt und des deutschen Bundeslandes Hamburg. Im Folgenden fasse ich aus fünf Büchern seine Aussagen über sich selbst, über seine Familie und über die gegenwärtige Zeit zusammen. Das erste Buch hat er selbst verfasst, für das zweite schrieb er ein Nachwort, für das dritte und vierte schrieb er ein Geleitwort und im vierten ist ein Portrait seines langen Lebens mit persönlichen Kommentaren.
Kaus von Dohnanyi 2018
Quelle: www.wikipedia.org
Klaus von Dohnanyi veröffentlichte 2022 sein Buch „Nationale Interessen. Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche“: „Ich schrieb dieses Buch auch als enger Freund und Bewunderer der Vereinigten Staaten von Amerika … Deutschland und Europa sind heute in Fragen der Sicherheit und der Außenpolitik nicht souverän. Es sind die USA, die hier in Europa die Richtung vorgeben … Amerika bleibt Amerika … Angesichts der globalen Risiken des Klimawandels und des Friedens wäre eine intensive Zusammenarbeit der Großmächte – der USA, China und Russland – heute dringender denn je. Wir wissen doch, dass der bereits eingetretene Klimawandel nicht nur erhebliche Schäden an der Bewohnbarkeit unseres Globus verursacht, sondern auch der Migration eine neue Dynamik verleiht … Wir leben in einer zunehmend bedrohlichen Welt … Der Klimawandel ist heute die größte Bedrohung … Die Interessen Deutschlands, Europas und des sogenannten Westens lassen sich nicht mehr durch Drohungen wirtschaftlicher oder gar militärischer Maßnahmen verwirklichen … Die alles entscheidende Zeitenwende, die sich vor unseren Augen vollzieht, bedeutet: Wirtschaftlicher Erfolg, demokratisches Vorbild, diplomatische Stärke, nationale Vernunft und eine realistische Einsicht in die Interessen und Möglichkeiten der globalen Gegenspieler sind heute [eigentlich schon immer!] unendlich viel wichtiger als die Zahl der Raketen oder nuklearen Sprengköpfe … Um Russland angesichts seiner China-Allianz schrittweise wieder für ein eher europäisches Engagement zu gewinnen, bedarf es jetzt erheblicher diplomatischer Bemühungen und einer sorgfältig geplanten Entspannungspolitik zwischen Ost und West in Europa … Was wir … in erster Linie brauchen werden, sind politischer Mut und die Geduld für eine große Debatte. In dieser Hoffnung habe ich dieses Buch geschrieben.“ (Zitate aus den Seiten 10, 18, 207, 215, 224)
Der 1952 geborene Winfried Meyer, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin, veröffentlichte 2015 sein Buch „Hans von Dohnanyi. Verschwörer gegen Hitler: ‚Mir hat Gott keinen Panzer ums Herz gegeben.‘ Briefe aus Militärgefängnis und Gestapo-Haft 1943–1945“. Klaus von Dohnanyis Frau Ulla Hahn schrieb das Vorwort: „Aber ich meine, dass die wahre Wurzel seines Handelns dieses menschliche und zwischenmenschliche Band war, für das es seit alters her das große Wort gibt: Liebe … Durch sein Leben ist er zur Hoffnung geworden für andere, für uns. Und …: Diese Briefe sind das Hohelied der Liebe … für jeden, der mit den Augen der Menschlichkeit diese Briefe zu lesen weiß.“ (Zitate aus den Seiten 14 f). Sein Sohn Klaus von Dohnanyi schrieb das Nachwort: „Seine Briefe aus der Haft konnten keine politischen Briefe sein, nicht einmal einen Abschiedsbrief konnte es geben … [Ich] habe [einer Veröffentlichung] zugestimmt, weil ich hoffe, dass [dadurch] etwas erkennbar werden könnte, was wir oft vergessen: Mut, sogar großer körperlicher Mut, muss und darf kein Gegensatz sein zur Empfindsamkeit des Herzens. Die Welt, auf die wir zugehen, wird beides gleichermaßen brauchen. Insofern kann das Leben dieses mutigen, weichherzigen Täters auch ein Vorbild sein für das Leben in dieser neuen, globalisierten und unfriedlichen Welt.“ (Zitate aus der Seite 312)
Winfried Meyer veröffentlichte 1993 sein Buch „Unternehmen Sieben. Eine Rettungsaktion“. Es ging um einen Fluchtplan für sieben Juden aus Berlin in die Schweiz, der auch von Hans von Dohnanyi organisiert wurde. Tatsächlich waren es aber 14 Juden, die 1942 in die Schweiz flüchteten. Klaus von Dohnanyi schrieb das Geleitwort zu diesem Buch: „Es wäre eine Illusion zu meinen, die Kraft, den Versuchungen des Totalitarismus zu widerstehen, gründe auf geistigen Fähigkeiten, auf Wissen und Kenntnissen. Oder auch auf einer … kritischen Erziehung … Es müssen sich wohl kompromißlose Empfindsamkeit für Recht und Unrecht mit außerordentlichem Mut verbinden, damit in der Diktatur die Kraft zum Widerstand entstehen kann. Ablehnung und Anti-Haltung mögen auf Wissen, Vernunft und Moral gründen – Widerstand quillt aus einer tieferen Schicht. Nicht Verstand, sondern Fühlen; nicht Vernunft, sondern ein tiefes Wissen über das Böse; nicht Glaube oder Moral allein, sondern die spontane Selbstverständlichkeit, den Mut für das moralisch Richtige zu haben, sind die Quellen.“ (Zitate aus den Seiten X und XI)
Der 1939 geborene Journalist Cornelius Bormann veröffentlichte 2023 sein Buch „Die Grunewald-Gefährten. Hans von Dohnanyi, Klaus und Dietrich Bonhoeffer, Justus Dellbrück, Gerhard Leibholz. Freunde im Widerstand gegen Hitler“. Das Buch beschreibt das Leben von den oben genannten und anderen Familien, die in Berlin-Grunewald lebten und dort den Nährboden des Widerstandes gegen die Barbarei der Nazis legten. Klaus von Dohnanyi schrieb das Geleitwort zu diesem Buch: „Das örtliche Zentrum meiner Freunde war damals das Haus meines Großvaters Karl Bonhoeffer. Hier wuchs Dietrich Bonhoeffer auf … Es war ein Viertel der Wissenschaft, der Gelehrten und ihrer Familien. In der Erziehung der Kinder galt die Suche nach der Wahrheit als eine ehrenhafte Selbstverständlichkeit … Es gab auch damals politischen Streit in vielen Familien, über die Nazis, für und wider. Nie unter den Grunewald-Gefährten … So verschieden sie waren, sie alle hatten gelernt, was Anstand unter Menschen bedeutet. Den lebt man täglich, man macht seine Fehler, aber bleibt doch bemüht, zu seinem Wort und seine Überzeugungen zu stehen … Das gemeinsame Band, das die Grunewald-Gefährten bis an ihr Lebensende zusammenhielt [war]: nicht Familie, nicht Verwandtschaft – Anstand im Umgang mit den Menschen war das Band. Und das gilt es auch heute wieder zu lernen von dieser ungewöhnlichen Gemeinschaft.“ (Zitate aus den Seiten 11 f)
Der 1970 geborene Journalist Tim Pröse veröffentlichte 2024 sein Buch: „Wir Kinder des 20. Juli. Gegen das Vergessen: Die Töchter und Söhne des Widerstands gegen Hitler erzählen ihre Geschichte“. Am 20. Juli 1944, also vor 80 Jahren scheiterte das Attentat auf Hitler des deutschen politischen Widerstandes um seine Schlüsselfigur Claus Schenk Graf von Stauffenberg (1907 – 1944). Tim Pröse führte auch ein Gespräch mit Klaus von Dohnanyi, der zu den Kindern der Familien gehörte, die maßgeblich den Widerstand gegen Hitler planten und durchführten. In diesem Gespräch sagte Klaus von Dohnanyi: „Ich war körperlich und geistig wie jeder Junge auf die Zukunft ausgerichtet. Meine Widerstandskraft, um solch einen Schmerz [gemeint ist die Ermordung seines Vaters Hans von Dohnanyi und Onkels Dietrich Bonhoeffer am 9. April 1945; Klaus war damals 16 Jahre alt] zu überwinden, kam wohl aus der Kraft des Lebens, aus dem Lebenswillen … Er [gemeint ist sein Vater] war sehr jung und ein guter Bastler, ein guter Handwerker … Er wollte, dass wir ein Handwerk lernen. Wir haben ihm später einen Koffer gebaut, in dem wir ihm Sachen ins KZ brachten … Mein Vater hat alle Einzelheiten von uns ferngehalten, um uns zu schützen. Ich wusste natürlich, dass die ganze junge Familie gegen die Nazis war … Die Priorität [gemeint ist die der gegenwärtigen deutschen Bundesregierung] müsste sein, uns vor den Folgen des Klimawandels zu schützen. Stattdessen kaufen wir Panzer für die Ukraine, weil wir nicht geholfen haben, einen Krieg zu verhindern, der verhinderbar war … Für mich wäre ein Leben ohne Gedichte [seine Frau ist die Lyrikerin Ulla Hahn, geboren am 30. April 1945] eigentlich undenkbar. Gedichte sind für mich wie Alltagssprache … Ich brauche sie ganz praktisch als Einschlafmittel … Es muss entsetzlich gewesen sein für meinem Vater, zuzuschauen, welche Entwicklung die Welt nahm … Ich habe das Gefühl, die Welt nimmt dieselbe Entwicklung wie vor 1933 an … Es ist bitter zu sehen, wie viel falsche Politik nicht nur von Russland, sondern auch vom Westen gemacht wird … Meine Trauer [um seinen Vater] war stark bestimmt durch jene so spürbare und ihr Leben beendende Trauer meiner Mutter [Christine von Dohnanyi, geborene Bonhoeffer] … Sie konnte sich von ihr nie befreien und starb 1965 mit 62 Jahren … Er [Dietrich Bonhoeffer] war viel bei uns zu Hause, wir waren gern mit ihm zusammen. Ein lustiger, liebevoller Onkel, der mit uns Tischtennis spielte und Skifahren ging … Sie waren alle eingeladen und kamen nicht [seine SPD-Parteifreunde, die 2003 nicht zur Feierstunde in das Berliner Bonhoefferhaus zum 100. Geburtstag seiner Mutter kamen, an der auch Funktionäre von Yad Vashem, der internationalen Holocaust-Gedenkstätte in Israel, teilnahmen. Der Name seines Vaters steht auf einer Tafel dieser Gedenkstätte, weil er ein „Gerechter unter den Völkern“ ist]. Ich habe das nicht verstanden. So etwas hinterlässt Spuren … Da wird einer der wenigen – ich glaube, es sind kaum über 650 Deutsche – von Yad Vashem geehrt, und dann gibt es jemanden im engeren Kreis der Partei, der damit verbunden ist. Und niemand nimmt sich Zeit … [Willi Brandt] war wichtig für mein Leben. Ein liberaler Sozialdemokrat … Er war ein offener Mensch. Das versuche ich auch zu sein … [Wir brauchen] in Zukunft Charaktere, die auch unter schwierigen Bedingungen standhalten können. Diese Substanz … steckt in dem Knochengerüst des Widerstandes: die Fertigkeit, für eine zivile, moralische Gesellschaft einzutreten … Diese Erinnerung [an den Widerstand des 20. Juli 1944] hat nur Sinn in einem größeren Zusammenhang, denn wir haben keine vergleichbare Lage heute oder in Sichtweite. Was wir aber heute brauchen … ist Zivilcourage … Wir brauchen … ein hoßes Maß an internationaler Zusammenarbeit und dafür wiederum an gegenseitiges Vertrauen in der Welt … [Für] eine offene politische Debatte [wäre] innenpolitische Zivilcourage gefordert, aber davon sehe ich zu wenig … [Angesichts] meines langen Lebens fühle ich immer mehr Trauer für diesen jungen, sportlichen und lebensfrohen Mann [gemeint ist sein Vater], dem kein langes Leben, kein glückliches Alter gegönnt war. Er wurde von den Nazis ermordet, als er gerade mal hab so alt war wie ich heute … Ich habe versucht, ein Assistent für eine bessere Geschichte meines Vaterlandes zu sein. War ich damit erfolgreich? Man wird sehen.“ (Zitate aus den Seiten 276, 280, 281, 285, 286 f, 294, 295, 300 f)
Fragen zum Nachdenken:
- Was weißt Du von Klaus von Dohnanyi bzw. von der Familie Dohnanyi?
- Welche Aussagen Klaus von Dohnanyis haben Dich angesprochen?
- Was bedeutet für Dich Zivilcourage, Mut und Anstand?
- Wann, wie und wo sind Zivilcourage, Mut und Anstand erforderlich?
- Welche Quellen zum Widerstand gegen Unrecht gibt es für Dich?
Lesen wir bis zum Rundbrief Dezember 2024: Psalm 69 – diesen hat Hans von Dohnanyi am Ostersonntag 1943 im Berliner Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis gelesen und spiegelt seine damalige Situation treffend wider; Matthäus-Evangelium, Kapitel 8, die Verse 14 - 17.
Liebe Grüße, Euer Obmann Uwe