Rundbrief 2024-10 In Memoriam Maria von Wedemeyer

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HAPAX und ein herzliches Hallo zum Rundbrief Oktober 2024!

Maria von Wedemeyer war die Verlobte von Dietrich Bonhoeffer. Sie verlobte sich mit ihm am 13. Jänner 1943. Ihr Trautext sollte der Psalm 103 sein. Zur kirchlichen Trauung kam es leider nicht, denn Bonhoeffer wurde am 9. April 1945 im Konzentrationslager Flossenbürg ermordet. Bonhoeffer wurde weltberühmt. Es gibt viele Gedenkstätten, Seminare, Symposien und Schriften über ihn. Unseren Verein haben wir am 9. April 2015 anlässlich seines 70. Todestages im Pfarrhaus Wiedweg gegründet. Am 9. April 2025 ist nicht nur Bonhoeffers 80. Todestag, sondern auch das 10-jährige Jubiläum unseres Vereins.

Aber wer weiß schon, dass Maria von Wedemeyer heuer ihren 100 Geburtstag gefeiert hätte. Sie wurde am 23. April 1924 in Pätzig geboren. Wer weiß schon etwas über ihr Leben. Man vergleiche nur den Eintrag bei Wikipedia über sie und den über Bonhoeffer.

Im Heft 1/2023 des Deutschen Pfarrerblattes (www.pfarrerverband.de) erschien ein bisher nicht veröffentlichter Lebenslauf Maria von Wedemeyers, den sie 1948 anlässlich einer Bewerbung für ein Stipendium in den USA schrieb, um dort ihr in Deutschland begonnenes Studium der Mathematik zu beenden:

   
Maria von Wedemeyer, Dietrich Bonhoeffer
Quelle: Gütersloher Verlagshaus

„Ich wurde am 23.4.1924 auf dem elterlichen Gut Pätzig – in der Mark Brandenburg – geboren. Die Familie meines Vaters ist seit dem 17. Jahrhundert im Land Hannover ansässig. Mein Vater hat Jura studiert, war aber aus Verpflichtung zum ererbten Boden nach dem 1. Weltkrieg Landwirt geworden. Seine Interessen, außerhalb seiner landwirtschaftlichen Betätigung, lagen vor allem auf politischem und kirchlichem Gebiet. Er ist, bis zur Machtergreifung Hitlers, in konservativem Sinne ständig aktiv politisch tätig gewesen. 1933 zog er sich von jeder politischen Betätigung zurück, ohne jedoch verhindern zu können, dass er aufgrund seiner antinationalsozialistischen Gesinnung, aus der er nie ein Hehl machte, oft scharf angegriffen wurde. Meine Mutter stammt aus einer schlesischen Juristenfamilie. Ich bin das 3. Kind von 7 Geschwistern. Wir wurden in unseren ersten Schuljahren von einem Hauslehrer unterrichtet. Dies gab uns nicht nur einen wesensmäßigen Vorsprung vor den öffentlichen Schulen, sondern ließ uns viel Zeit für Sport und Jagd, die vor allem mein Vater anleitete und förderte. Meine Liebe war der Umgang mit Pferden. Ich ritt kurz nach meinem 15. Geburtstag meine ersten Turniere mit. Bestimmend ist für uns Geschwister vor allem die starke christliche Gebundenheit meiner Eltern geworden. Sie hat uns mit großer Selbstverständlichkeit an den christlichen Glauben herangeführt und uns darin Wurzeln schlagen lassen, die trotz aller Erlebnisse und Zweifel bis heute sehr fest und sicher geblieben sind. Aus dieser christlichen Atmosphäre heraus lernten wir, lange bevor uns politische Gründe und Gesichtspunkte zugänglich waren, den Nationalsozialismus in seinen unchristlichen und unmenschlichen Grundtendenzen zu erkennen und abzulehnen. Und dies taten wir nicht nur mit Worten, sondern meine Eltern verlangten von uns ein konsequentes Verhalten. Das hieß damals, dass wir nicht Mitglieder der Hitlerjugend werden durften. Wir erkannten dies als richtig und notwendig an, obgleich es uns später, wenn wir als Einzigste der Klasse nicht Mitglieder der Hitlerjugend waren, oft bitter schwer geworden ist. Von meinem 11. Lebensjahr an verbrachte ich meine Schulzeit in Internaten. Von 1935-38 in einem sehr alten, streng konservativen Stift (Altenburg/Thüringen), das in seiner preußisch strengen Erziehung mich recht liberal erzogenes Kind wohl in manch notwendiger Weise abschliff, aber gleichzeitig mir doch sehr deutlich offenbarte, wie viel an dieser Art der Erziehung überholt und einengend war. Das Landerziehungsheim Wieblingen (in Heidelberg) hingegen, das ich von 1938-1942 besuchte, war ein modernes, dem College-Typ ähnliches Mädcheninternat. Es wurde von Elisabeth von Thadden geleitet, einer hervorragenden Pädagogin und einem unbestechlich klaren Charakter. Sie war eine der wenigen Frauen, die sich an der deutschen Widerstandsbewegung aktiv beteiligte. Sie bezahlte dies mir einer einjährigen Haft und schließlich der Hinrichtung. Elisabeth von Thadden war ein Mensch, der auf meine Entwicklung während meiner Schulzeit einen sehr starken Einfluss ausübte. Ich konnte, obwohl ich nicht der Hitlerjugend angehörte, zur Zeit ihrer Schulleitung zunächst zur Klassenvertreterin und danach zur Schulsprecherin gewählt werden. Das Lernen ist mir durch meine ganze Schulzeit hindurch sehr leicht geworden. Mein Interesse galt vor allem der Geschichte, ich arbeitete gern an geschichtlichen Referaten und Ausarbeitungen. In Heidelberg machte ich jedoch die Entdeckung nicht nur einer mathematischen Begabung bei mir, sondern auch einer großen Liebe zur Mathematik. In meiner freien Zeit beschäftigte ich mich eingehend damit und erregte so sehr bald die Aufmerksamkeit meiner Lehrer. Als durch einen Krankheitsfall eine Mathematiklehrerin für ein Vierteljahr ausfiel, durfte ich den Unterricht der kleineren Klassen übernehmen. Durch das Gelingen dieses Versuches glaubte ich den Beteuerungen meiner Lehrer, dass ich über pädagogische Fähigkeiten verfüge, und beschloss, Lehrerin zu werden. – Noch ein anderes Erlebnis festigte diesen Entschluss. Nach der Verhaftung von Elisabeth von Thadden durch die Gestapo wurde die Schule einer nationalsozialistischen Leitung übergeben. Da ich ein Jahr vor meinem Abiturientenexamen stand, war ein Schulwechsel unratsam. So wurde ich Zeuge davon, wie ein Internat innerhalb weniger Monate einen völlig neuen Charakter bekommen konnte, und wie damit auch – dieses Erlebnis erschreckte mich besonders und machte mich sehr nachdenklich – die geistige Entwicklung der Mädchen in diesem Internat in erstaunlich schneller und verführerischer Weise in die Bahnen des Nationalsozialismus gelenkt wurde. Im März 1942 machte ich mein Abiturientenexamen. Anschließend wurde ich Rote-Kreuz-Schwester, um einer Einziehung in eine Munitionsfabrik zu entgehen. Im Herbst dieses Jahres fielen mein Vater und mein älterer Bruder in Russland. – Im Januar 1943 verlobte ich mich mit dem Pfarrer Dietrich Bonhoeffer. Dietrich Bonhoeffer, geboren 1906, war bis zum Jahre 1934 Dozent für evangelische Theologie an der Universität Berlin. Es war für ihn vom Tage der Machtergreifung Hitlers an eine klare Sache, dass er als Geistlicher und als Mensch in offenen Gegensatz zum Nationalsozialismus und seinen Machthabern kommen musste. Trotz Rede- und Schreibverbotes arbeitete er in der Leitung der Bekennenden Kirche und war seit 1933 mit den Männern der deutschen Widerstandsbewegung aus allen konfessionellen und politischen Richtungen in permanenter Verbindung. Vor dem Kriege und auch während des Krieges hatte er während zahlreicher Auslandsreisen Gelegenheit, nicht nur mit wissenschaftlichen Aufgaben, sondern auch mit wichtigen Missionen der deutschen Widerstandsbewegung mit Geistlichen und Politikern aus Europa und USA in Kontakt zu kommen. Im April 1943, drei Monate nach Beginn unserer Verlobung, wurde Dietrich Bonhoeffer durch die Gestapo in Berlin verhaftet. Ich verließ meinen Schwesternberuf und zog nach Berlin, um für meinen Verlobten, soweit es möglich war, sorgen zu können. Diese Sorge bestand bis Sommer 1944 darin, dass ich meinen Verlobten jeden Monat ein Mal für 20 Minuten sehen konnte im Beisein eines SS-Mannes, ihm außerdem seine Wäsche wusch und auf mannigfache Weise erreichte, ihm gelegentlich Essen und Nachrichten in seine Zelle zu schmuggeln. Nach dem Attentat des 20. Juli 1944 wurde der Gestapo auch die aktive Teilnahme meines Verlobten an der Widerstandsbewegung voll offenbar. Er kam in strengste Haft und es war von da an für mich nicht mehr möglich, ihn zu sehen, ihm zu schreiben oder auch irgendeine Nachricht von ihm zu erhalten. Mir wurde sein Aufenthalt durch die Gestapo verheimlicht. So fuhr ich, um ihn zu sehen, zu den Konzentrationslagern Bergen-Belsen, Buchenwald, Dachau und Flossenbürg, aber in allen Lagern wurde mir absichtlich jede Auskunft über meinen Verlobten verweigert. So gab ich mein Suchen Anfang April, als die amerikanischen Truppen in Süddeutschland einmarschierten, auf. Erst ein halbes Jahr nach der deutschen Kapitulation erfuhr ich, dass Dietrich Bonhoeffer am 9.4.1945 im Konzentrationslager Flossenbürg erhängt worden ist. Im Februar 1945 hatte meine Familie durch das Eindringen der sowjetischen Armee das Gut verlassen müssen und Besitz und Vermögen verloren. Ich bin mit meinen 4 kleinen Geschwistern auf einem Pferdewagen im Februar 1945 ca. 600 km nach Westdeutschland geflohen. Nach dem Kriege übernahm ich zuerst den Posten einer Hauslehrerin in Bayern. Ich unterrichtete 6 Kinder in 3 Klassen. Nach der Eröffnung der Universitäten begann ich im April 1946 mein Studium in Göttingen. Ich studierte Mathematik, Physik und Geschichte. Ich wählte diese Fächer, weil ihnen mein besonderes Interesse gilt und ich mich ihnen gewachsen fühlte. Im Laufe meiner zwei Studienjahre habe ich mit zunehmender Freude und Gewissheit die Richtigkeit dieser Wahl meines Berufes, nämlich Lehrerin und Erzieherin zu werden, erkannt. Meines Erachtens nach ist der Lehrerberuf derjenige, der am aller unmittelbarsten am Wiederaufbau Deutschlands mitarbeitet. Ebenso wichtig, wie dass die Menschen ein Dach über dem Kopf haben, ist, dass sie auch geistig und sittlich wieder ein Zuhause finden. Das reiche Anschauungsmaterial der Geschichte einerseits, die formale Bildung der Mathematik ander­erseits scheinen mir besonders geeignet, der Jugend die geistigen Mittel zur geistigen Selbständigkeit hierzu zu bieten. Mit der Fähigkeit des nüchternen Denkens und dem Wissen um die Vergangenheit allein ist es ja aber doch nicht getan. Es gilt ein echtes sittliches Bewusstsein heranzubilden, dass jedes Handeln und Denken in die Verantwortung zwingt und von dem ich meine, dass es uns allein im Christentum gegeben wird. Der eigenen Fehler und auch Möglichkeiten wird man sich jedoch, so meine ich, erst völlig in einer fremden Umgebung bewusst. Dass ich mir ein Studium in Amerika wünsche, hat den Grund der Erkenntnis der großen Bedeutung Amerikas nicht nur in der politischen, sondern auch in der geistigen Entwicklung.“

Maria bekommt das Stipendium, übersiedelt in die USA und schließt 1950 ihr Studium mit dem „Master of Arts in Mathematics“ am Elitecollege Bryn Mawr (Vorort der US-Stadt Philadelphia) ab. Sie bleibt in den USA und arbeitet als Statistikerin und Mathematikerin. 1949 heiratet sie Paul-Werner Schniewind und hat mit ihm zwei Söhne – Christopher, geboren 1950 und Paul, geboren 1954. Die Ehe wird 1956 geschieden. Maria heiratet 1959 Barton Weller, von dem sie 1965 geschieden wird. Sie siedelt nach Boston, arbeitet dort beim Computerunternehmen Honeywell, hat dort eine leitende Funktion und freut sich über ihr Holzhaus am Meer. 1976 nimmt sie anlässlich des 70. Geburtstages von Bonhoeffer am internationalen Bonhoeffer-Symposium in Genf teil, an dem auch einige alte Freunde Bonhoeffers aus dem Predigerseminar Finkenwalde teilnehmen. 1977 erhält Maria die Diagnose einer schweren Krebserkrankung. Ihre Schwester Ruth-Alice von Bismarck besucht sie. Maria gibt ihr die Erlaubnis, die Briefe zwischen ihr und Bonhoeffer, die viele Jahre in einer Kiste versiegelt waren, zu veröffentlichen. Das Buch Brautbriefe Zelle 92 erschien 1992. Wochenlang kämpft Maria ums Überleben. Schwestern und Ärzte sind beeindruckt von ihrem Lebensmut und ihrer Lebendigkeit. Am 16. November 1977 stirbt Maria im 54. Lebensjahr. Ihre Urne wird im Familiengrab der Familie Wedemeyer in Gernsbach (Baden-Württemberg) bestattet. An der Friedhofskapelle erinnert seit 2009 eine Gedenktafel an sie, die vom Bildhauer Andreas Helmling (1959 – 2019) angefertigt wurde. Am Schluss des Nachwortes des Buches „Brautbriefe Zelle 92“ schreibt Bonhoeffers bester Freund Eberhard Bethge: „Jetzt ist das Ganze zugänglich: Eltern- und Geschwisterbriefe seiner [gemeint ist Bonhoeffer] zwei letzten Lebensjahre, Freundeskorrespondenz und literarische Versuche - und nun auch dieser Briefwechsel, in dem Dietrich überzeugend zu Maria gehört und Maria zu Dietrich.“ 

Fragen zum Nachdenken:

  • Was weißt Du von und über Maria von Wedemeyer?
  • Welche Aussagen des Lebenslaufes haben Dich angesprochen?
  • Wie wäre die Ehe zwischen Maria und Dietrich verlaufen?
  • Sind die beiden Ehen Marias gescheitert, weil sie in Wirklichkeit Bonhoeffer geliebt hat?
  • Was ist aus ihren Söhnen geworden?

Literatur von und über Maria von Wedemeyer:

  • Brautbriefe Zelle 92, München 1992.
  • Renate Wind: „Es war eigentlich nur Hoffnung.“ Maria von Wedemeyer, in: Esther Röhr (Hg.): Ich bin was ich bin. Frauen neben großen Theologen und Religionsphilosophen des 20. Jahrhunderts, Gütersloh 1997, S. 305 – 344.
  • Wolfgang Seehaber: Maria von Wedemeyer. Bonhoeffers Verlobte. Ein Lebensbild, Basel 2012.

Lesen wir bis zum Rundbrief November 2024: Psalm 103 (sollte Trautext zur Hochzeit von Dietrich und Maria werden); Matthäus-Evangelium, Kapitel 8, die Verse 5 – 13.

Liebe Grüße, Euer Obmann Uwe