Rundbrief 2023-10 Demokratie
HAPAX und ein herzliches Hallo zum Rundbrief Oktober 2023!
Joachim Gauck, geboren am 24. Jänner 1940 im ostdeutschen Rostock, war evangelischer Pfarrer in der ehemaligen DDR und von 2012 bis 2017 der elfte und erste parteilose Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland. In seinem 2023 erschienen Buch „Erschütterungen. Was unsere Demokratie von außen und innen bedroht“ beschreibt er zunehmende politische Tendenzen nach rechts in Deutschland und in anderen europäischen Ländern, die unsere Demokratie erschüttern und bedrohen.
Joachim Gauck
Quelle: www.wikipedia.org
In der Einleitung und im Schlussteil seines Buches schreibt er: [Es geht] „um die Bedrohung von außen seitens des imperialen russischen Nachbarn, der das völkerrechtliche Gewaltverbot missachtet, und um die Bedrohung von innen seitens autoritärer, populistischer Kräfte, die den Pluralismus und die Rechtsstaatlichkeit in Frage stellen … Wenn sich die Welt um uns herum verändert, muss sich die Demokratie mit ihr verändern. Wenn unser demokratisches und liberales Land von außen bedroht wird, muss es sich entschiedener wehrhaft machen. Wirklicher Frieden ist nur in Freiheit zu machen. Wenn unser Land von innen angegriffen wird, muss es resistent werden gegen illiberale, fundamentalistische und populistische Kräfte aller Art. Die gegenwärtigen Erschütterungen und Veränderungen können unsere Demokratie am Ende nur dann wirklich bedrohen, wenn wir, die Bürgerinnen und Bürger, allein mit Angst und Ignoranz reagieren … Ich weiß, wie viel Kraft dem Menschen innewohnt, wie viel er zu gestalten und wie er tatsächlich Dinge zum Guten zu wenden vermag … Für die Verteidigung Europas sind weiter die NATO und … die USA zuständig … [es gilt] endlich den europäischen Pfeiler innerhalb der NATO zu stärken, eine stärkere europäische Kooperation im militärischen Bereich zu entwickeln und mehr sicherheitspolitische Verantwortung zu übernehmen … Mindestens so einschneidend wie der Kurswechsel in der Sicherheitspolitik ist es, dass sich der Mentalitätswechsel innerhalb der deutschen Gesellschaft fortsetzt … Solange es auf der Welt Mächte gibt, die das Recht des Stärkeren durchsetzen wollen, müssen sich auch jene rüsten, die die Stärke des Rechts vertreten … eine unbedingte Friedensverpflichtung stellt das Völkerrecht auf den Kopf. Sie relativiert und untergräbt das Selbstbestimmungsrecht der Nationen und das Recht auf Selbstverteidigung … Je schneller und mehr Waffen der Westen liefert, umso eher lassen sich dem Aggressor seine Möglichkeiten für weiteres aggressives Vorgehen nehmen, ein tragbarer Frieden mit einer souveränen Ukraine finden und die Sicherheit Europas gewährleisten … Die neue Lage hat indes erneut die Dringlichkeit unterstrichen, sich [gemeint ist Deutschland] zwar als enger Partner der USA, aber dennoch als eigenständig und wirklich handlungsmächtig zu begreifen … Sie [die Mehrheit der Gesellschaft] vertraut und akzeptiert Kursänderungen innerhalb des bestehenden Systems … Sie will keinen Systemwechsel, sie will allerdings, dass die Demokratie die neuen Herausforderungen ernst nimmt … Es gibt kein anderes System, in dem jeder Bürger Grundrechte wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit genießt …, in dem das Bundesverfassungsgericht und die gesamte Rechtsordnung garantieren, dass die Rechte der Bürger nicht nur auf dem Papier stehen, in dem der Bürger in freien und geheimen Wahlen [wählen können], in dem Menschen in Vereinen, Bürgerinitiativen Parteien und Gewerkschaften [Kirchen nennt er nicht!] aktiv werden können, in dem Wohlstand für viele und soziale Absicherung … gesichert sind und in dem jeder das Land verlassen kann … Es liegt an uns, ob und wie weit wir uns der Spirale von Polarisierung und Radikalisierung widersetzen. Es liegt an uns, ob und wie weit wir ein von Rechtsstaatlichkeit und Toleranz geprägtes Zusammenleben in einer Gesellschaft der Verschiedenen verteidigen. Um die Demokratie als eine Ordnung der Freiheit und Gleichheit zu erhalten, muss sie von einem verantwortungsstarken Geist ihrer Bürger getragen sein … Und mag [der Bürger] heute auch erschüttert und bedroht sein, so weiß dieser Bürger doch genau, was zu tun ist: Ich werde beseitigen, was sich als falsch erwiesen hat, ich werde neu schaffen, was erforderlich ist, und ich werde verteidigen, was sich als gut erwiesen hat – ein Leben in Freiheit und Würde, wie es nur unter dem Dach unserer Demokratie möglich ist.“ (a. a. O., S. 7 – 9 und 214 – 224)
In Bonhoeffers Schriften habe ich keine Analysen und Abhandlungen über den Begriff Demokratie gefunden. Das liegt eventuell daran, dass er in keiner stabilen Demokratie gelebt und gewirkt hat. Geboren wurde er im Deutschen Kaiserreich, seine theologische Ausbildung und Teile seiner kirchlichen und universitären Laufbahn waren in der schwachen Demokratie der Weimarer Republik, sein theologischer und politischer Widerstand waren in der Nazi-Diktatur.
Bonhoeffer gehörte zum Freiburger Kreis, einer Gruppe von Hochschullehrern und Geistlichen, der sich Ende 1938 in Freiburg (Baden Württemberg) gründete. Es entstanden dort drei oppositionelle Arbeitskreise: das „Freiburger Konzil“ der „Freiburger Bonhoeffer-Kreis“ und die „Arbeitsgemeinschaft Erwin von Beckerath“ (deutscher Ökonom). Ziel ihrer antinationalsozialistischen Aktivitäten war es, zu klären, wie sich Christen gegenüber einem Unrechtsregime verhalten sollen und herauszuarbeiten, wie eine politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung für ein neues demokratisches Deutschland nach Ende der Nazi-Herrschaft aussehen könnte. Der Name der zweiten Gruppierung des Freiburger Kreises wird auch als „Freiburger-Bonhoeffer-Kreis“ bezeichnet, den Bonhoeffer aber nie geleitet oder in der Öffentlichkeit vertreten hat. Diese entstand wegen der Bitte Bonhoeffers um eine Programmschrift für die Arbeit in einer ökumenischen Weltkirchenkonferenz. In dieser sollte die innen- und außenpolitische Lage Deutschlands nach dem Ende des Krieges erörtert werden. Dazu kam Bonhoeffer am 9. Oktober 1942 nach Freiburg. Die Denkschrift sollte an den anglikanischen Bischof George Bell von Chichester gelangen, der zu den beiden hochkirchlichen Oberhausmitgliedern im britischen Parlament zählte und seit Ende Mai 1942 mit Bonhoeffer in Verbindung stand. Der endgültige Text erhielt den Titel: „Politische Gemeinschaftsordnung. Ein Versuch zur Selbstbesinnung des christlichen Gewissens in den politischen Nöten unserer Zeit“. Diese Schrift wird auch als „Große Denkschrift“ bezeichnet. Mit etwa 120 Manuskriptseiten gilt sie als das ausführlichste zusammenhängende Zeugnis des deutschen Widerstands. Im ersten Hauptteil wurden die Gründe für den Erfolg des Nationalsozialismus aus historischer Perspektive ausführlich erörtert; der zweite Hauptteil behandelte die, in einem zukünftigen deutschen Staat, zu realisierende Innen- und Außenpolitik. Wegen der Gefahr der Entdeckung durch die Gestapo wurde die „Große Denkschrift“ nur in drei Exemplaren ausgefertigt und an einem geheimen Ort aufbewahrt. Bonhoeffer wurde im Frühjahr 1943 verhaftet. Alle Teilnehmer des Arbeitskreises „Freiburger Denkschrift“ wurden im Zuge der Verhaftungswelle nach dem 20. Juli 1944 festgenommen. Bonhoeffer, Goerdeler und Perels wurden schließlich hingerichtet. Die Anklageschrift vom 9. April 1945 nennt als Gründe ihre Beteiligung an den Putschvorbereitungen mit Vorschlägen für die wirtschafts-, sozial- und kulturpolitische Neugestaltung des Reiches und ihre Mitwirkung bei der Ausarbeitung wirtschafts-, sozial- und kulturpolitischer Richtlinien für die Zeit nach dem Gelingen des Umsturzes.
Im Vorwort zur Freiburger Denkschrift schreibt der Mitverfasser Gerhard Ritter (1888 bis 1967, Universitätsprofessor für Geschichte und Mitglied der Bekennenden Kirche): „Einen neuen Anstoß erhielt unsere Arbeit im Spätsommer 1942. Damals kam der Berliner Pfarrer Dietrich Bonhoeffer im Auftrag der sog. ‚Vorläufigen Leitung der Bekennenden Kirche‘ zu uns mit der Mitteilung, man lege dort aus besonderen Gründen hohen Wert auf unsere Arbeitsergebnisse. Es sei nämlich bekannt geworden, daß einige Bischöfe der anglikanischen Kirche (Bischof von Chichester, Erzbischof von Canterburry) die Einberufung einer Weltkirchenkonferenz sofort nach Abschluß der kriegerischen Feindseligkeiten planten, und zwar unter Beiziehung auch der evangelischen Kirchen Deutschlands, um dort eine erste Fühlungnahme zwischen den bisher feindlichen Nationen herzustellen und damit eine versöhnlichere Atmosphäre für die nachfolgende Friedenskonferenz vorzubereiten. Für diesen Zweck nun bedürfe man einer rechtzeitigen Verständigung unter den Führern der deutschen Kirchen über die Grundsätze einer gesunden, auf christlicher Grundlage ruhenden Außen- und Innenpolitik – Grundsätze, die sie auf der Weltkirchenkonferenz gemeinsam vertreten könnten, mit besonderem Hinblick auf die Sicherung des künftigen Weltfriedens und auf die Neugestaltung des deutschen Staatslebens nach dem Kriege.“ (Helmut Thielicke (Hg.): In der Stunde Null. Die Denkschrift des Freiburger „Bonhoeffer-Kreises“. Politische Gemeinschaftsordnung. Ein Versuch zur Selbstbesinnung des christlichen Gewissens in den politischen Nöten unserer Zeit, Tübingen 1979, S. 27)
Herangezogene Literatur zum Freiburger Kreis:
- Byong-Chol Lee: Wirtschaftspolitische Konzeption der Christlichen Demokraten in Südbaden 1945 – 1952 (Dissertation), erschienen 2000.
- Helmut Thielicke (Hg.): In der Stunde Null. Die Denkschrift des Freiburger „Bonhoeffer-Kreises“. Politische Gemeinschaftsordnung. Ein Versuch zur Selbstbesinnung des christlichen Gewissens in den politischen Nöten unserer Zeit, Tübingen 1979.
Fragen zum Nachdenken und Diskutieren:
- Welche Aussagen Gaucks sprechen Dich an, welche siehst Du eher kritisch?
- Was verbindest Du mit Demokratie?
- Welche Staatsform ist für Dich die beste?
- Welche Vorschläge für ein neues Deutschland hättest Du gemacht, wenn Du damals an der Abfassung der „Großen Denkschrift“ mitgearbeitet hättest?
Lesen wir bis zum Rundbrief November 2023:
Psalm 91; Matthäus-Evangelium, Kapitel 5, die Verse 38 – 42
Liebe Grüße, Euer Obmann Uwe