Rundbrief 2023-08 No fear

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HAPAX und ein herzliches Hallo zum Rundbrief August 2023!

Vor einigen Monaten sah ich in einem Klagenfurter Kino den Film „Igor Levit – No Fear.“ Igor Levit wurde am 10. März 1987 in Nizhni Nowgorod (ehemalige Sowjetunion) geboren, ist ein hervorragender Pianist und Beethoveninterpret und lebt in Berlin.

Im Alter von acht Jahren siedelte er 1995 mit seiner Familie nach Hannover um. Dort absolvierte er sein Klavierstudium. Seit 2019 ist er Professor für Klavier an der Hochschule für Musik, Theater und Medien. Für sein politisches Engagement (er ist Mitglied der deutschen Partei Bündnis90/Die Grünen) wurde ihm 2019 der 5. Internationale Beethovenpreis verliehen. 2020 erhielt er eine Auszeichnung des Internationalen Auschwitz Komitees anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz. Während des Lockdowns im Frühjahr 2020 streamte er 53 Hauskonzerte über Twitter. Für diese als Zeichen der Hoffnung und für sein Engagement gegen Antisemitismus wurde er 2020 mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet. 2021 erschien sein Buch „Hauskonzert“, 2022 erschien das Buch „Igor Levit: Mein Leben mit der Gegenwart. Ein Gespräch“ (beide Bücher stehen in unserer Bonhoeffer-Bibliothek).


Quelle: www.wikipedia.org

In dem Buch „Hauskonzert“ heißt es: „Mag sein, dass Igor Levit zu den besten Pianisten des Jahrhunderts gehört, er ist in jedem Fall der präsenteste … In beinahe allen Texten, Interviews, Podcasts geht es entweder um Igor Levit, den Pianisten, der sich politisch äußert. Oder um Igor Levit, den Twitter-Aktivisten, der im Übrigen auch Klavier spielt … Ein einziges Mal nur erlaubt Beethoven der Musik, langsamer zu werden. Wenn man ihn fragt, warum so schnell, sagt Igor unumwunden: Weil ich es kann. Und weil Beethoven es verlangt … Igor gehört zu den gefragtesten Beethoven-Interpreten auf dem Markt … Deshalb eignet sich das Klavier so gut für Kinder. Jeder Ton ist ein Erfolgserlebnis, Musik klingt hier sofort nach Musik … Er wollte schon lange Gast einer politischen Talkshow sein. Dies ist nun eine Runde, in der er nicht allein als Klassik-Star befragt wird, sondern in erster Linie zu einer Haltung als politisch denkender Mensch. Er soll bei Maybrit Ilner zum Thema ‚Hass im Netz‘ debattieren … Igors Antwort: ‚Sprache ist meiner Meinung nach das, was Klima macht. Ich habe keine Sprache in dem, was ich tue …, ich mache Musik, ich erzeuge Zustände … Und hier zu sitzen mit der Meinung: Na ja, man kann jemanden schon mal mit Hass und Hetze übersäen oder sagen, ‚Ich richte dich hin‘, das ist nicht so schlimm, denn ich tue es ja nicht – das ist kein Argument. Das ist die Saat, aus der dann diese Taten geschehen. Und das kleiner zu reden, als es ist, halte ich wirklich für gefährlich.‘ … Drei Tage nach der Talkshow … erreicht Igors Management eine Morddrohung …: Bald werde das Publikum ein blaues Wunder erleben, danach werde Igor, ‚die Judensau‘, keine Konzerttermine mehr brauchen, man werde ihn vor Publikum das Maul stopfen … Der Jurist [Igor lernte ihn innerhalb eines Abendessens kennen] … sagt: Naja, ist ja klar, dass Sie schwer zu vermarkten sind … Aber Sie dürfen nie vergessen, dass Sie zu einer Bevölkerungsgruppe gehören, die zwar hier lebt, die hier zu leben aber nicht mehr vorgesehen war … Dieser Mann hat zu mir gesagt: Du existierst nicht. Du hast kein Recht zu sein …  Einige Menschen stören sich an Igor wohl auch deshalb, weil er sie daran hindert zu vergessen, dass es Antisemitismus noch immer gibt … Die meisten anderen Pianisten, eigentlich alle anderen, verkaufen sich über ihre Harmlosigkeit. Über alle steht der Wunsch …: nur nicht anecken …, also nicht öffentlich kritisieren, am besten gar nicht positionieren … Igor hat diese Furcht nicht, es gibt für ihn auch keine Grenze zwischen Musik und darüber hinaus gehendem Denken. Aus seiner Sicht ist Kunst, ist Musik ohne Positionierung nicht denkbar, jeder einzelne Takt, jeder Ton ist Bekenntnis … Er sagt: Tu das Richtige, mach die Augen auf, hör nicht weg, achte auf die anderen Menschen … Bei Igor ist Musik nicht harmlos, kein neutraler Boden, er zwingt seine Zuhörer in eine Position: Zustimmung oder Ablehnung, Neutrales Zuhören ist kaum möglich.“ (a. a. O., S. 12, 15, 20, 24, 42, 46, 48, 51, 52, 53)

In dem Buch „Mein Leben mit der Gegenwart“ heißt es: „Igor Levit ist mal Bürger, mal Europäer, mal Pianist … [Er] ist Übersetzer. Er hört zu, fühlt mit, empfindet nach – und ist in der Lage, Herzen zu berühren …, weil er die wenigen universalen Sprachen… beherrscht wir kaum ein Zweiter: die Musik, das Lächeln, menschliche Güte … Er spielt und redet und schreibt an gegen Diskriminierung, gegen Anitiziganismus [Rassismus gegen Sinti und Roma] und Frauenfeindlichkeit, gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus … Igor Levit nämlich weiß: Nach dem Sagbaren kommt das Machbare, dem Angriff auf die Menschlichkeit folgt der Angriff auf den Menschen. Daher rührt sein Engagement … Er versteckt auch nicht seine Angst. Angst um sich, wenn er … ein Konzert spielt, in dessen Vorfeld konkrete Morddrohungen ergehen; Angst um andere … Angst um dieses Land … Stattdessen zweifelt er, öffentlich und offenkundig, an sich, seinem Wirken, an uns allen. Bloß ver-zweifeln, das tut er nicht – und schenkt damit vielen Menschen, was sie an dringendsten brauchen: Mut.“ (a. a. O., S. 10 – 12)                        

Dietrich Bonhoeffer war nicht nur theologisch, sondern auch musikalisch hoch gebildet, und zwar in der klassisch-romantischen Tradition des 19. Jahrhunderts. „Bald gab es keinen Zweifel mehr, daß Dietrich die naturwissenschaftlichen Neigungen der Älteren nicht teilte; stattdessen … machte er ungewöhnliche Fortschritte in der Musik … Musikalischer und technischer Fortschritt gingen jedoch bei Dietrich am Klavier so Hand in Hand, daß tatsächlich für ein gewisse Zeit bei ihm wie bei den Eltern der Gedanke aufkam, er könne sich ganz der Musik verschreiben … Mit zehn Jahren spielte er Mozartsonaten vor … Sonnabend abends wurde er zum versierten Begleiter der Lieder von Schubert [1797 – 1828], Schumann [1810 – 1856], Brahms [1833 – 1897] und Hugo Wolf [1860 – 1903], welche seine Mutter und stimmbegabte Schwester Ursula sangen … Frühzeitig war er dazu erzogen, unbefangen vorzuspielen … So war es in Bonhoeffers Jugendzeit die Musik, die ihm in der Schule und unter den Studenten eine besondere Stellung verschaffte.“ (Eberhard Bethge, Dietrich Bonhoeffer, S. 47 f)

Bonhoeffer hat mit seiner endgültigen Wendung zur Theologie seine Liebe zur Musik nicht aufgegeben. So hat er seine pianistischen Fähigkeiten in der Gemeindearbeit eingesetzt – 1928 als Vikar in Barcelona oder 1933 – 1935 als Auslandspfarrer in London. In der Zeit als Leiter des Predigerseminars Finkenwalde hat er mit seinem Freund Eberhard Bethge Lieder von Heinrich Schütz (1585 – 1672) und des österreichischen Komponisten Hugo Wolf (1860 – 1903) musiziert. Johannes Goebel, Schüler Bonhoeffers im Predigerseminar Finkenwalde, stellte fest, am Klavier einen anderen Bonhoeffer als sonst erkannt zu haben. „Einmal war ich dabei, als er sich ans Klavier setzte. Er improvisierte … Ich fragte ihn alsdann, ob er auch versucht hätte oder auch versuchte, zu komponieren. Mit einem deutlichen Ton der Abwehr sagte er etwas, daß er damit aufgehört hätte, seit er Theologe geworden sei. Mir scheint das als ein typischer Wesenszug: Bonhoeffer ist … leidenschaftlicher Prediger und Theologe gewesen. Am Instrument improvisieren und gar komponieren – das kann man auch nur aus und in Leidenschaft … Als er am Klavier saß und spielte, kam etwas Urwüchsiges, Naturhaftes, das ich an seinem Wesen noch nicht kannte und später auch nie mehr bemerkt habe, zum Ausdruck, ein anderer Dietrich, als er sich sonst zeigte. Nicht nur seine frische Art, seine Energie, sein Wille … Er saß nicht gerade, sondern quer nach rechts …; er saß wie ein Klavierschüler nie hätte sitzen dürfen. Und er spielte hart, etwas zu sehr hämmernd, auch einfach zu laut. An den musikalischen Stil seiner Improvisation kann ich mich leider nicht erinnern. Sicherlich deswegen nicht, weil mir in diesem einen Augenblick der Durchbruch des Menschlichen durch seine Persönlichkeit fesselnder geworden war als die Art seiner Musik.“ (Begegnungen mit Dietrich Bonhoeffer. Ein Almanach, S. 97 f.)   

Bonhoeffer prüfte den gottesdienstlich - liturgischen Gebrauch von Komponisten, ob ihre Musik dazu beitragen könne, das Wort Gottes zu verkünden. Für ihn konnte das die Musik von Johann Sebastian Bach (1685 – 1750), die von Beethoven (1770 – 1827) aber nicht. „Bach hat über alle seine Werke geschrieben: soli deo gloria [allein Gott sei Ehre und Ruhm] – oder Jesu juva [Jesus, hilf], es ist, als ob seine Musik nichts anderes wäre als ein unermüdlicher Lobpreis dieses Gottes – und es ist andererseits, also ob die Musik Beethovens nichts anderes wäre als der unvergängliche Ausdruck menschlichen Leidens und menschlicher Leidenschaft. Darum können wir Bach im Gottesdienst hören und Beethoven nicht.“ (DBW 13, S. 354)

In der Berliner Haft hebt Bonhoeffer in seinem Brief vom 27. März 1944 an Eberhard Bethge die wichtige Bedeutung des Musizierens hervor und meint, durch die Haft den tauben Beethoven besser zu verstehen. „Seit einem Jahr habe ich keinen Choral mehr singen hören. Aber es ist merkwürdig, wie die nur mit dem inneren Ohr gehörte Musik … fast schöner sein kann als die physisch gehörte; sie hat eine größere Reinheit, alle Schlacken fallen ab; … Es sind nur einige wenige Stücke, die ich so kenne, daß ich sie von innen her hören kann; aber gerade bei den Osterliedern gelingt es besonders gut. Die Musik des tauben Beethovens wird mir existentiell verständlich, besonders gehört für mich dahin der große Variationssatz aus Opus 111 … Wie du ohne Musik fertig wirst, kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, oder hast Du die Flöte doch mit? Kannst Du nicht versuchen, eine Gambe oder Oboe zu kaufen? Oder eine gute Gitarre?“ (DBW 8, 367 f.)    

Igor Levit und Dietrich Bonhoeffer – No Fear!

Für Igor Levit ist Beethovens Musik eine furchtlose Musik. Für Dietrich Bonhoeffer war der christliche Glaube ein furchtloser Glaube. Die Namen Levit und Bonhoeffer stehen für Zivilcourage, Humanismus und Widerstand. Beide hatten bzw. haben auch Angst um ihr Leben. Aber verzweifelt sind sie nicht. Deswegen geben sie durch ihre Texte und Musik Menschen Mut und Hoffnung. Auch wir selbst sollten versuchen, so furchtlos wie nur möglich zu sein. 

Fragen zum Nachdenken und Diskutieren:

  1. Ist Dir Igor Levit bekannt?
  2. Was weißt Du über Beethoven?
  3. Welche Musikrichtung gefällt Dir?
  4. Bist Du furchtlos?

Lesen wir bis zum Rundbrief September 2023: 

Psalm 89; Matthäus-Evangelium Kapitel 5, die Verse 27 - 32                   

Liebe Grüße, Euer Obmann Uwe