Rundbrief 2023-07 Die Postkarte

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HAPAX und ein herzliches Hallo zum Rundbrief Juli 2023!

Die 1979 geborene Anne Berest ist eine französische Regisseurin und Buchautorin. 2021 erschien ihr Bestseller-Roman „La carte postale“, der 2023 als deutsche Übersetzung „Die Postkarte“ erschien. In ihrem Roman beschreibt sie die Geschichte ihrer jüdischen Familie.

Im Januar 2003 findet Anne Berests Mutter Lélia unter der Post mit den Neujahrswünschen eine Ansichtskarte. Auf der Vorderseite sieht man die Pariser Oper, auf der Rückseite die Adresse und die Vornamen von vier in Auschwitz ermordeten Angehörigen. Die Postkarte verschwindet in eine Schublade. Anne fragt einige Jahre später wieder nach ihr. Lélia erzählt ihr die tragische Geschichte der Familie Rabinovitch und wie ihre eigene Mutter Myriam [Annes Großmutter] dem Holocaust entkam und sich bei der Résistance [französischer Widerstand gegen die Nazis] engagierte. Erst als Annes Tochter in der Schule hört, dass man Juden nicht so gerne mag, will Anne mehr über die Herkunft der geheimnisvollen Postkarte erfahren und wertet viele Dokumente ihrer Familie aus. Durch ihre Recherchen entstand ihr Bestseller-Roman, in dem sie die Lebensgeschichte von Ephraïm, Emma, Noémie und Jacques vor dem Vergessen bewahrt. Es sind die Vornamen der Großeltern von Annes Mutter sowie von deren Onkel und Tante, die 1942 in Auschwitz ermordet wurden.

Zu Beginn ihres Romans schreibt sie: „Und da lag sie, in dieser vollkommen gewöhnlichen Januarpost. Die Postkarte. Sie hatte sich ganz unscheinbar zwischen die Umschläge gemogelt, so als hätte sie sich versteckt, um nicht aufzufallen. Was meine Mutter sofort stutzig machte, war die Schrift: seltsam, unbeholfen, eine Handschrift, die sie noch nie gesehen hatte. Dann las sie die Vornamen, die untereinanderstanden, wie eine Liste.

Ephraïm

Emma

Noémie

Jacques

Es waren die Vornamen ihrer Großeltern mütterlicherseits, ihrer Tante und ihres Onkels. Alle vier waren zwei Jahre vor der Geburt meiner Mutter deportiert worden. Sie waren 1943 in Auschwitz gestorben. Und einundsechzig Jahre später tauchte sie in unserem Briefkasten wieder auf. An diesem Montag, dem 6. Januar 2003. Wer schickt mir denn so eine schreckliche Karte, fragte sich Lélia.“ (a. a. O. S. 5 f)

Am Ende ihres Romans klärt sie die Leser auf, wer die Postkarte geschrieben hat: „Aber wer hat sie dann geschrieben? Das war Myriam. Kurz bevor sie starb … Ich [gemeint ist Juliette, die Myriam am Ende ihres Lebens pflegte] musste ihr ein wenig helfen, ihr die Hand führen … am Ende gelang es ihr nicht mehr, die Buchstaben zu schreiben … Ihre Großmutter hatte oft das Bedürfnis, ihre Erinnerungen zu Papier zu bringen … Und dann eines Tages nahm sie eine Postkarte aus ihrer Sammlung … Sie bat mich also, ihr dabei zu helfen, diese vier Namen aufzuschreiben … Dann sagte sie zu mir: Wenn ich zu meiner Tochter ziehe, schicken sie mir diese Postkarte. Versprechen sie es mir? Versprochen, habe ich erwidert. Ich nahm die Karte an mich und legte sie zu meinen persönlichen Papieren … Sie ist ja nie zu ihrer Mutter gezogen … Und ich dachte nicht mehr an die Karte … Ich sagte zu meinem Mann: Ich muss unbedingt diese Karte einwerfen, es bedeutete Myriam sehr viel, ich habe es ihr versprochen … Aber warum wollte Myriam sich diese Postkarte selbst schicken? Weil sie wusste, das sie dazu verurteilt war, das Gedächtnis zu verlieren, hatte sie mir gesagt: Ich darf sie nicht vergessen, sonst gibt es niemanden mehr, der sich daran erinnert, dass sie gelebt haben.“ (a. a. O, S. 534 – 536)

Bonhoeffers Familie war für ihn stets ein sehr wichtiger Ort und eine Oase der Geborgenheit, der Sicherheit, der Solidarität und der Bildung. In Bonhoeffers Buch Widerstand und Ergebung finden sich einige aussagekräftige Äußerungen über seine Familie:

„Von der Verlobung wissen nun wohl alle? Aber es bleibt doch in der Familie? da allerdings nach meiner Zählung die engste Familie auf beiden Seiten zusammen über 80 Menschen sind, wird es wohl nicht lange verborgen bleiben. (a. a. O, S. 57) … Aus den Paketen erkenne ich immer wieder die Mitwirkung der ganzen Familie, Geschwister und Kinder wie auch der Familien von Maria, alle müssen wissen, wie dankbar ich dafür bin; es ist eine wirkliche Hilfe. Was für ein Reichtum ist in solchen bedränglichen Zeiten eine große, eng miteinander verbundene Familie, wo einer dem anderen vertraut und beisteht … Damals habe ich nicht gewußt, was in der kalten Luft der Gefangenschaft die Wärme, die von der Liebe einer Frau und einer Familie ausgeht, bedeutet, und wie gerade in solchen Zeiten der Trennung das Gefühl der unbedingten Zusammengehörigkeit noch wächst (a. a. O., S. 105) … Nachdem ich in den letzten 14 Tagen des unsicheren täglichen Wartens kaum zu produktiven Arbeiten kam, will ich jetzt versuchen, wieder ins Schreiben zu gehen. Ich hatte in den vergangenen Wochen einen Entwurf zu einem Schauspiel versucht, habe aber inzwischen festgestellt, daß der Stoff eigentlich nicht dramatisch ist und werde ihn nun in die erzählende Form umzuarbeiten versuchen. Es geht um das Leben einer Familie. Da mischt sich naturgemäß viel Persönliches ein (a. a. O, S. 135; Bonhoeffers schriftstellerische Arbeiten finden sich in dem Buch Fragmente aus Tegel, DBW 7) … Eben wurde ein Koffer mit Konserven und der Fahrpelz bei mir abgegeben … Es ist wirklich wunderbar, wie ihr immer gleich an alles denkt und es auch in die Tat umsetzt. Ich glaube, in dieser Hinsicht ist unsere Familie wirklich etwas ganz Besonderes, glaubst Du nicht auch? und wie gut, daß Du [gemeint ist Eberhard Bethge] ganz darin eingeschlossen bist (a. a. O., S. 215) … Aber ich [gemeint ist Eberhard Bethge] habe ja in Wirklichkeit wenig nur gepredigt. Durch sie [gemeint ist Renate, Bethges Frau und Nichte Bonhoeffers] wird mir - scheint mir - vieles bei Dir klarer und verständlicher, die Verschiedenheit unserer Herkunft …; was es bedeutet, daß Du in dieser Familie Theologe wurdest und bist (a. a. O., S. 272) … Es ist doch wahrscheinlich kein Zufall, daß Du [gemeint ist Eberhard Bethge] sozusagen ganz von selbst in unsere Familie hineingewachsen bist, daß Du zu ihr gezählt wurdest, ehe Du ihr angehörtest und daß Du ihr von vornherein auf musikalisch-künstlerisch-menschlichem Gebiet etwas eingebracht hast, was dankbar und bereitwillig von ihr aufgenommen und assimiliert wurde (a. a. O., S. 343) … Aber bei allen Veränderungen äußerer Art haben wir doch wohl gerade in diesem Jahr [1944] den festen Zusammenhalt unserer großen Familie in allen ihren Gliedern stärker erfahren als je. Und daß das ganz entscheidend daran liegt, daß Ihr [gemeint sind die Eltern Bonhoeffers] der unveränderte Mittelpunkt der Familie geblieben seid, daran gibt es keinen Zweifel (a. a. O., S. 361) … Es mag sein, daß alle unsere weiblichen Familienglieder nicht einfache Schwiegertöchter sind, aber es ist Sache der Schwiegereltern, die starken Seiten ihrer Schwiegertöchter zu erkennen, und daß es eigentlich immer die Ausschließlichkeit der Liebe zu ihren Männern ist, die die Quelle der Schwierigkeiten wird (a. a. O. S. 417) … die Frauen in unserer Familie lieben ihre Männer mit einer Stärke und Ausschließlichkeit, wie es das wohl selten gibt (a. a. O., S. 419) … Ihr [gemeint ist Bonhoeffers Familie] lehrt mich [gemeint ist Eberhard Bethge] wirklich alles genießen, das gehört wohl auch zur Klugheit Eurer Familie (a. a. O., S. 496) … Ich danke Dir [gemeint ist die Mutter Bonhoeffers] für alle Liebe, die im vergangenen Jahr von Dir zu mir in meine Zelle gekommen ist und mir jeden Tag hat leichter werden lassen.“ (a. a. O., S. 609)

Ein Foto von Anne Berest (dürfen wir hier aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht verwenden) sowie weitere Infos zu ihrem Roman findet ihr unter folgendem Link:
https://www.fr.de/kultur/literatur/erfolgsautorin-anne-berest-die-postkarte-was-es-heisst-juedisch-zu-sein-92318956.html

So könnte eine Postkarte an den HAPAX-Dietrich-Bonhoeffer-Verein in Österreich aussehen:

Bildseite:

Rückseite:

Fragen zum Nachdenken:

  • Kennst Du die Chronik Deiner Familie?
  • Was bedeutet Familie für Dich?
  • Wie hast Du Deine Familie erlebt?
  • An wen würdest Du eine Postkarte schicken? Warum?

Lesen wir bis zum Rundbrief August 2023 den Psalm 89 und die nächsten Verse der Bergpredigt Jesu – Matthäus-Evangelium, Kapitel 5, Verse 27 – 32!  

Liebe Grüße, Euer Obmann Uwe