Rundbrief 2023-05 China

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HAPAX und ein herzliches Hallo zum Rundbrief Mai 2023!

Die Bücher des 1958 geborenen chinesischen Schriftstellers Liao Yiwu sind aufgrund seiner kritischen Haltung zur chinesischen Regierung in der Volksrepublik China verboten. 2011 gelang ihm die Flucht nach Deutschland.

Er lebt seitdem in Berlin. 2011 erhielt er den Geschwister-Scholl-Preis, 2012 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. 2023 erschien sein Buch „Unsichtbare Kriegsführung. Wie ein Buch ein Imperium bezwingt“. Am Ende seines Buches schreibt er: „Dieses dem Zerfall geweihte Imperium wird keinen Erfolg haben. Wie sie auch heißen mögen, Putin oder Xi Jinping, sie werden keinen Erfolg haben. Wie Lenin, Hilter, Stalin, Mao Zedong und Deng Xiaoping keinen Erfolg hatten. Ja, in den Desastern, die das Diktatur-Virus ein ums andere Mal anrichtete, haben zahllose unschuldige Menschen ein schreckliches Ende gefunden, aber wir halten alles fest, die Berichte und Bilder der Verbrechen, und damit lassen wir die Toten nicht sterben. Die vielen namenlosen Toten, die so weit reichen wie Himmel und Erde, sie werden Zeugen sein für die Verbrechen und ewig leben.“ (S. 109 f.)   

Liao Yiwu (Quelle: wikipedia.org)

Durch die 2022 gehaltene Rede des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz wird der Begriff „Zeitenwende“ oft erwähnt und zitiert. Bereits durch den zweiten japanisch-chinesischen Krieg (1937 – 1945) schreibt Bonhoeffer von einer Wende der Zeiten: „Wir stehen in einem Zeitalter der Weltanschauung … Und selten ist man weltanschaulich so gebunden, so doktrinär, so intolerant gewesen wie heute. Nun kann man natürlich über all diese Erscheinungen lächeln und sich überlegen davon zurückziehen. Und doch ist solches Lächeln nicht gut. Man zeigt, dass man nicht verstanden hat, worum es in diesen scheinbar so wunderlichen Dingen geht. Und es ist ja zweifellos ein einziges großes Thema, um das sich unser gesamtes weltanschauliches Denken bewegt. Und das ist der zukünftige Mensch. Wir alle … sind uns wohl während der letzten weltgeschichtlichen Ereignisse [Bonhoeffer meint den Krieg zwischen Japan und China, die 1929 entstandene Weltwirtschaftskrise durch den New Yorker Börsenkrach und auch den Ersten Weltkrieg] über eines klar geworden, nämlich daß wir gegenwärtig an einer Wende der Zeiten stehen, der offenbar der gegenwärtige Mensch, wie er nun einmal ist, nicht gewachsen ist. Technik und Wirtschaft sind selbsttätige Gewalten geworden, die den Menschen zu vernichten drohen. Sie richten sich hoch auf und ihre Dämonen bevölkern den Götterhimmel unserer Zeit. Die großen Verwirklichungen der Völker treiben Völker in ihren Untergang hinein und doch scheint kein Mensch mächtig genug, dies Schicksal aufzuhalten …“ (DWB 11, S. 387 f und Anmerkung 10 auf S. 387)

Auch zur Zeit Bonhoeffers muss der Hunger ein großes weltweites Problem gewesen sein. In seiner 1931 gehaltenen Predigt zum Erntedankfest schreibt Bonhoeffer: „Dazu kommt eine der furchtbarsten Plagen, die ein Volk treffen kann und die jetzt über die ganze Welt geht, die Arbeitslosigkeit. Wir müssen damit rechnen, daß im Winter sieben Millionen Menschen in Deutschland keine Arbeit finden werden, d. h. daß fünfzehn bis zwanzig Millionen Menschen im nächsten Winter der Hunger anfassen wird, andere zwölf Millionen oder mehr in England, zwanzig oder mehr in Amerika. Um sechszehn Millionen sind gegenwärtig in China am Verhungern, und nicht viel besser steht’s in Indien.“ (DBW 11, S. 380 f.)                       

Der 1973 geborene Yu Jie ist ein chinesischer Autor und Menschenrechtsaktivist. Er konvertierte 2003 zum Christentum und war Mitglied einer chinesischen Hauskirche. Auch wegen seiner Freundschaft mit dem 2010 ausgezeichneten Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo wurde er verhaftet und gefoltert. 2012 wanderte er mit seiner Familie in die USA aus


Yu Jie (Quelle: wikipedia.org)

 
Liu Xiaobo (Quelle: Wikipedia.org)

In einem Interview von 2017 mit Peter Mommsen, Herausgeber von Plough Quarterly, einem Magazin für Menschen, die ihren Glauben in die Praxis umsetzen wollen, sagte er (Quelle: www.plough.com): „Ich wurde in der Stadt Chengdu in der Provinz Sichuan geboren, einer wunderschönen Bergregion mit einer langen Geschichte des Widerstands gegen die imperiale Macht in Peking. Also habe ich von Beginn meines Lebens an eine Abneigung gegen zentralisierte Macht eingeatmet … Der Moment meines politischen Erwachens kam, als ich sechzehn war und das Gymnasium besuchte. Ich erinnere mich noch gut an die Nachricht vom Massenmord an protestierenden Studenten auf dem Tiananmen-Platz in Peking. Dieser Tag, der 4. Juni 1989, markierte einen Wendepunkt für mich – ich begann die wahre Natur des kommunistischen Regimes zu erkennen. Ich würde ihre Lügen nie wieder glauben. 1998, noch als Student, veröffentlichte ich mein erstes Buch, ‚Feuer und Eis‘, eine  Sammlung satirischer Essays, die die chinesische Gesellschaft kritisieren … Als wir zurück nach Peking zogen, fing [meine Frau] an, in der U-Bahn zur und von der Arbeit die Bibel zu lesen. Mit der Zeit überzeugte sie das, was sie las, und sie wurde Christin. Ich brauchte zwei Jahre, um ihr zu folgen … Ich war in einem kleinen Raum mit ungefähr hundert Leuten in einer unterirdischen Hauskirche. Der Pastor rief meinen Namen und der Geist kam. Ich sah meine Verdorbenheit, meine Sündhaftigkeit, und die Tränen begannen zu fließen. Dann gründeten wir eine Bibelstudiengruppe mit drei Paaren. Immer mehr Leute kamen … Unsere Vision war es, eine kleine Gemeinschaft zu bleiben, in der wir uns kennen und lieben konnten. Wir nannten es die Peking-Arche. Viele politisch sensible Menschen schlossen sich unserer Kirche an: regimekritische Schriftsteller, Angehörige von Opfern des Platzes des Himmlischen Friedens und Anwälte, die sich dem Regime widersetzten. Normalerweise haben Menschen mit einem solchen Hintergrund Schwierigkeiten, eine Kirche zu finden, die sie akzeptiert – Kirchen fürchten die Geheimpolizei. Weil wir solche Leute willkommen hießen, wurden wir schikaniert … Deshalb werde ich die Kirchengemeinde, in der ich getauft und Christ geworden bin, nie verlassen. Obwohl ich jetzt seit fünf Jahren in den Vereinigten Staaten lebe, bin ich immer noch Mitglied dieser Kirche und stehe mit den Brüdern und Schwestern in Kontakt … Ich danke Gott dafür, dass er mich in eine bestimmte Kirchengemeinde berufen hat, der meine Frau und ich treu bleiben können. Meine Kirche hilft mir, mein Christentum im wirklichen Leben zu leben – es ist nicht nur eine abstrakte Theorie. Nachdem meine Frau und ich zum Beispiel unter Hausarrest gestellt worden waren, besuchte mich keiner meiner Freunde und Kollegen von der Peking-Universität. Aber viele Mitglieder unserer Kirche taten es. Einige Menschen wenden sich vom Aktivismus ab, nachdem sie Christen geworden sind, aber meine Bekehrung hat mich noch überzeugter und enthusiastischer gemacht, die Menschenrechte zu fördern. Nach meinem Verständnis sind die Menschenrechte ein Geschenk Gottes, der uns geschaffen und uns Leben, Freiheit und Würde geschenkt hat. Diese Rechte werden von keiner nationalen Regierung festgelegt. Die chinesische Regierung definiert Menschenrechte als ein Recht auf Überleben … Life Together [gemeint ist Bonhoeffers Buch „Gemeinsames Leben“, über das er geschrieben hat] ist für chinesische christliche Intellektuelle von enormer Bedeutung, weil so viele von ihnen das Christentum individualistisch behandeln, als Privatsache, und sich nie am kirchlichen Leben beteiligen. Wenn sie über den christlichen Glauben sprechen, verwenden sie eine Menge philosophischer Terminologie, die weniger gebildete Menschen ausschließt. Ein angesehener Gelehrter, der viele christliche Bücher ins Chinesische übersetzte, isolierte sich auf diese Weise und wurde schließlich zum Faschisten. Daher ist das gemeinsame Leben mit Brüdern und Schwestern für unsere christliche Nachfolge von entscheidender Bedeutung. Bonhoeffer hat das erkannt. Selbst in den härtesten Zeiten tat er sein Bestes, um eine Art Gemeinschaftsleben mit anderen zu teilen … Er [ist] heute einer der wichtigsten Theologen für die chinesische Kirche. Unsere Situation weist gewisse Analogien zu der der Deutschen Christen im Nationalsozialismus auf – insbesondere seit Xi Jinping vor vier Jahren Chinas Staatspräsident geworden ist. Der Kirche in China mangelt es größtenteils an den geistlichen Ressourcen, die sie braucht, um diesen kritischen Moment für unsere gesamte Gesellschaft zu bewältigen … Unter solchen Umständen ist das Zeugnis von Bonhoeffer äußerst wichtig – nicht nur seine Ideen, sondern mehr noch sein Beispiel, sein Leben für den Glauben hinzugeben. Bonhoeffer nahm persönlich an der Anti-Hitler-Bewegung teil. Sein Zeugnis sollte uns zum Nachdenken anregen, wie wir christlichen Glauben mit Widerstand vereinen können … Die Kirchen hier in Amerika genießen mehr Freiheit, aber viele kommen zu spät zum Gottesdienst oder spielen während des Gottesdienstes mit ihren Smartphones. Und wegen des relativ opulenten Lebensstils der Gemeindemitglieder achten viele Pastoren darauf, nicht zu kränken. Ihr Hauptanliegen ist nicht das Reich Gottes, sondern die Mitgliederbindung. In ihren Predigten höre ich Gespräche über Gnade, Liebe, Frieden und Wohlstand – aber nie eine Erwähnung von Sünde, dem Gesetz Gottes oder Kirchenzucht. Bonhoeffer nannte das billige Gnade … Christliches Leben ist nicht nur Sonntagsgottesdienst. Unser Glaube muss unser politisches Leben und alle Aspekte des persönlichen und sozialen Lebens beeinflussen. Leider sind zu viele Christen in China immer noch nur Sonntagschristen. Ihr Glaube ist von ihrem täglichen Leben getrennt … Ich denke, wir müssen weiter zurückgehen, zum Modell der frühen Kirche. Wir brauchen ein Zusammenleben in kleinen Gemeinschaften, in denen man sich wirklich kennt und füreinander sorgt …“

1969 erschien in Hong Kong eine chinesische Übersetzung von Bonhoeffers Buch „Widerstand und Ergebung“ (DBW 8, Seite 12, Anmerkung 62).

Der 1907 geborene Wang Zhiming war ein chinesischer evangelischer Pfarrer, der 1973 als Märtyrer ums Leben kam. Er gehört zu den zehn Märtyrern des 20. Jahrhunderts neben Dietrich Bonhoeffer, Maximilian Kolbe, Manche Masemola, Janani Luwum, Grand Duchess Elizabeth of Russia, Martin Luther King, Óscar Romero, Esther John und Lucian Tapiedi, die als Statuen über dem Westportal der Londoner Kirche Westminster Abbey zu sehen sind.


Märtyrer an der Westminster Abbey: Der siebte von links ist Dietrich Bonhoeffer, ganz rechts ist Wang Zhiming
Quelle: wikipedia.org

Fragen zum Nachdenken:

  • Warst Du schon einmal in China?
  • Was weißt Du über die Volksrepublik und das Land China?
  • Was meint Liao Yiwu unter Erfolg?
  • Was verbindest Du mit Bonhoeffers Begriff Wende der Zeiten?   
  • Wie findest Du die beschriebenen chinesischen Hauskirchen?

Lesen wir bis zum Rundbrief Juni 2023 den Psalm 87 und die nächsten Verse der Bergpredigt Jesu – Matthäus-Evangelium, Kapitel 5, Verse 17 – 20.  

Liebe Grüße, Euer Obmann Uwe