Rundbrief 2022-11 Tyrannen

Posted in Blog

HAPAX und ein herzliches Hallo zum Rundbrief November 2022!

Im September 2022 erschien das Buch „Tyrannen. Eine Geschichte von Caligula bis Putin“, das von den Historikern André Krischer (lehrt Geschichte an der Universität Freiburg im Breisgau) und Barbara Stolberg-Rilinger (lehrt Geschichte an der Universität Münster) herausgegeben wurde.

20 Personen mit tyrannischen und despotischen Wesenszügen (19 Männer und zwei Frauen - die römischen Kaiser Caligula und Nero, Kaiser Heinrich IV., König Richard III., Ibrahim der Wahnsinnige, Ivan IV. der Schreckliche, König Friedrich Wilhelm I., Napoleon, König Leopold II., Franco, Mao, Pinochet, Idi Amin, Mugabe, Assad, Kim Jong Un, Erdogan, Trump, Putin, Katharina von Medici und Maos Frau Jiang Qing) werden portraitiert und analysiert.   

Erstens fasse ich die Einleitung des Buches zusammen, in der der Begriff Tyrann erklärt wird und warum gerade genannte Tyrannen ausgewählt wurden; zweitens zitiere ich aus aktuellem Anlass Auszüge aus dem Portrait Putins: „… ‚Tyrannei‘ und ‚Despotie‘ sind ja keine neutralen empirischen Begriffe, es sind Werturteile, politische Argumente. Als Tyrannen und Despoten bezeichnet man Machthaber, von denen man sich abgrenzen, gegen die man Widerstand organisieren, derer man sich entledigen oder gegen die man Krieg führen will. In diesem Buch kann es daher nicht einfach um die Frage gehen, ob eine Person – Mann oder Frau – wirklich ein Despot oder Tyrann war, sondern vielmehr darum, warum und von wem sie so wahrgenommen und bezeichnet wurde … Was qualifizierte Machthaber … zu Tyrannen oder Despoten? Gegen welche Regeln und Normen … verstießen sie? … In wessen Augen macht sie das zu Tyrannen – und in wessen Augen womöglich zum Helden? … ‚Tyrannos‘ … und ‚despotes‘ … sind Begriffe der griechischen Antike … Folgt man Aristoteles [griechischer Philosoph, 384 – 322 vor Christus] …, so ist der Tyrann ein Machthaber, der nach Willkür statt nach den Gesetzen herrscht. Es gibt ihn sowohl in der Monarchie als auch in der Demokratie. Im Gegensatz zum Begriff des Tyrannis, der der Sphäre des Politischen angehört und dessen Pervertierung bezeichnet, bezieht sich der Begriff des despotes auf die Sphäre des Hauses … Der Despot ist der Herr über die Sklaven … Bei der Auswahl der Personen … hatten wir die Qual der Wahl. Hitler und Stalin … haben wir bewusst ausgelassen … Beide galten und gelten als Tyrannen per excellence … Ihre Verbrechen erschienen uns mit denen der anderen inkommensurabel [nicht vergleichbar]. Und was ist mit den Frauen? … Es gab in der Geschichte … sehr viel weniger selbständige Herrscherinnen als Herrscher, sodass die Frauen weniger Gelegenheit zum Despotismus hatten. Das heißt aber nicht, dass das Thema nicht eine geschlechtergeschichtliche Dimension hätte, ganz im Gegenteil … Zur Verarbeitung des Schocks, in der der russische Präsident die westliche Welt mit seinem kriegerischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 versetzt hat, gehört es auch, Wladimir Putin als einen Tyrannen zu bezeichnen … Worauf es ihm ankommt … - die Vernichtung einer freien und unabhängigen Ukraine -, viel aufschlussreicher als das Was ist indes das Wie. Dazu gehört: die Abgeschiedenheit und Isolation seines holzgetäfelten Kabinetts, der Schreibtisch, an dem er sich bald festhält, das … aus der Vergangenheit wirkende Telefon, … der verächtliche und sarkastische Ton, in dem er von den ‚Partnern‘ des Westen spricht, der Hass, in dem er über die ukrainische Regierung … herfällt. Ambiente, Krawatte, die Flagge … lassen sich inszenieren, solche Wut, solche Maßlosigkeit des Ausdrucks, solche Verachtung indes nicht … ein Mann, der entschlossen ist, das wilde Tier des Krieges loszulassen … Der verzweifelte Verlierer …, [der] über die Macht verfügt, alle, auch sein eigenes Volk, mit in den Abgrund zu reißen …, wie er bald in eine gehässige und niederträchtige Rhetorik verfällt … - so verkörpert er die Tragödie, in die er sein Land geführt hat, und das Unglück, das er über die Ukraine gebracht hat. Es bricht aus ihm heraus. Die unbewältigte Geschichte des untergegangenen Imperiums [Sowjetunion], dessen Auflösung anzuerkennen er nicht die Kraft besitzt … Das Regime Putin ist nervös, nicht anders lassen sich die … brutalen Schläge gegen angeblich doch so bedeutungslose gesellschaftliche Bewegungen wie die um Nawalny erklären. Seine Nervosität hat einen Grund. An der Stelle der Bewältigung der ungelösten Probleme des eigenen Landes sind Ersatzhandlungen getreten … Putin ist immer noch der Meister der Eskalationsdominanz [militärische Verschärfung eines Konfliktes] … in Wahrheit [ist er] eher ein Getriebener, zum Unglück seiner Nachbarn und zum Verhängnis für das eigene Land.“ (S. 9 – 21 und 310 – 326)

In diesem Zusammenhang verweise ich auf ein kleines Buch (nur 90 Seiten) von Lisz Hirn: „Macht Politik böse? Zehn Trugschlüsse“, Graz, Wien 2022. Auf der letzten Seite (S. 88) heißt es: „Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient … [Es] zeigt sich einmal mehr, dass die Politik nur so böse ist, wie wir Bürger sie sein lassen.“ 

Für Bonhoeffer ist Tyrannei letztendlich ein Angriff gegen Gott selbst: „Die Botschaft von der Menschwerdung Gottes greift eine Zeit, in der bei den Bösen wie bei den Guten die Menschenverachtung oder Menschenvergötzung letzter Schluß der Weisheit ist, im Zentrum an. Im Sturm enthüllen sich die Schwächen der menschlichen Natur deutlicher als im stillen Fluß ruhiger Zeiten. Angst, Gier, Unselbständigkeit und Brutalität erweisen sich angesichts ungeahnter Bedrohungen und Chancen bei der überwältigenden Mehrzahl als die Triebfedern ihres Handelns. Der tyrannische Menschenverächter macht sich in solchem Zeitpunkt das Gemeine des menschlichen Herzens leicht zunutze, indem er es nährt und ihm andere Namen gibt: Angst nennt er Verantwortung, Gier heißt Strebsamkeit, Unselbständigkeit wird zur Solidarität, Brutalität zum Herrentum. So wird im buhlerischen Umgang mit den Schwächen der Menschen das Gemeine immer neu erzeugt und vermehrt. Unter den heiligsten Beteuerungen der Menschenliebe treibt die niedrigste Menschenverachtung ihr finsteres Geschäft. Je gemeiner das Gemeine wird, ein desto willigeres und schmiegsameres Werkzeug ist es in der Hand des Tyrannen. Die kleine Zahl der Aufrechten wird mit Schmutz beworfen. Ihre Tapferkeit heißt Aufruhr, ihre Zucht Pharisäertum, ihre Selbständigkeit Willkür, ihr Herrentum Hochmut. Dem tyrannischen Menschenverächter gilt Popularität als Zeichen höchster Menschenliebe, sein heimliches, tiefes Mißtrauen gegen alle Menschen versteckt er hinter den gestohlenen Worten wahrer Gemeinschaft. Während er sich vor der Menge als einer der ihren bekennt, rühmt er sich selbst in widerwärtigster Eitelkeit und verachtet das Recht jedes Einzelnen. Er hält die Menschen für dumm und sie werden dumm, er hält sie für schwach und sie werden schwach, er hält sie für verbrecherisch und sie werden verbrecherisch. Sein heiligster Ernst ist frivoles [frech, schamlos, leichtfertig] Spiel, seine biedermännisch beteuerte Fürsorglichkeit ist frechster Zynismus [gefühllose, spöttische, menschenverachtende Haltung]. Je mehr er aber in tiefer Menschenverachtung die Gunst der von ihm Verachteten sucht, desto gewisser erweckt er die Vergötterung seiner Person durch die Menge. Menschenverachtung und -vergötzung liegen dicht beieinander. Der Gute aber, der dies alles durchschaut, der sich angeekelt von den Menschen zurückzieht und sie sich selbst überläßt, der lieber für sich selbst seinen Kohl baut als sich im öffentlichen Leben gemein zu machen, erliegt doch derselben Versuchung der Menschenverachtung wie der Böse. Seine Menschenverachtung ist zwar vornehmer, aufrichtiger, aber auch unfruchtbarer, tatenärmer. Vor der Menschwerdung Gottes kann sie ebenso wenig bestehen wie die tyrannische Menschenverachtung. Der Menschenverächter verachtet, was Gott geliebt hat, ja er verachtet die Gestalt des menschgewordenen Gottes selbst.“ (Dietrich Bonhoeffer: Ethik, DBW 6, S. 72 f)                       

Fragen zum Nachdenken:

  1. Welche Wesensmerkmale hat ein Tyrann für Dich?
  2. Kanntest oder kennst Du Menschen mit tyrannischen Zügen in Deinem privaten oder beruflichen Umfeld?
  3. Welche Analyse über das Wesen der Tyrannei hat Dich angesprochen – die des Buches oder die Bonhoeffers?
  4. Wie würdest Du Putin charakterisieren?

Lesen wir bis zum Rundbrief Dezember 2022:

Psalm 81; Matthäus-Evangelium, Kapitel 24, Verse 15 - 28              

Liebe Grüße, Euer Obmann Uwe