Rundbrief 2022-10 Tegel

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HAPAX und ein herzliches Hallo zum Rundbrief Oktober 2022!

Der deutsche Schauspieler und Schriftsteller Steffen Schroeder (geboren 1974 in München) hat im September 2022 seinen Roman „Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor“ veröffentlicht. In diesem erzählt er aus dem Leben des berühmten Physikers Max Planck (1858 – 1947) und dessen Sohn Erwin (1893 – 1945).

Erwin war ein Zeitgenosse Dietrich Bonhoeffers, deutscher Politiker und Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus. Er wurde am 23. Juli 1944 verhaftet, am 23. Oktober 1944 zum Tode verurteilt und am 23. Jänner 1945 im Gefängnis Berlin-Plötzensee erhängt. Wie Bonhoeffer war er auch im Gefängnis Berlin-Tegel inhaftiert.

Steffen Schroeder beschreibt in seinem Buch die Haft Erwin Plancks in Tegel: „Drei Wochen ist Erwin nun schon in Tegel. Wenn man seinem letzten Brief Glauben schenken darf, scheint es ihm recht gut zu gehen … Hochverrat wirft man ihm vor … Bis zum Machtwechsel ist [er] in der Politik tätig gewesen, als Staatssekretär der Reichskanzlei … Unter Schleicher und Papen, den letzten Kanzlern der Weimarer Republik … Dass man, eingesperrt in einer kleinen Gefängniszelle, Freiheit erleben kann, dass hätte er nie gedacht … Sie mag ungefähr einen Meter achtzig breit sein und zwei Meter achtzig lang. Linker Hand steht ein Klappbett … Die dazugehörige Wolldecke stinkt … Unangenehm bleibt, dass man Tag und Nacht Handschellen trägt … Die einzige Unterbrechung des Zellendaseins ist der nächtliche ‚Bärentanz‘, wie sie hier sagen: täglich dreißig Minuten im Freistundenhof im Kreis gehen … Eines hat Erwin hier gelernt: Man muß die positiven Dinge sehen. Trotz allen Unglücks. Die Mahlzeiten sind hier … größer … Die Aufseher hier sind, anders als im KZ, normale Beamte, keine SS-Schergen … Manche Aufseher … sind in erster Linie Mensch … Trotz aller Angst, trotz des Gefühls, dass jeder Tag der letzte sein könnte, hat auch das etwas Positives: Eigentlich müsste man jeden Tag so leben, in diesem Bewusstsein … Nie hat er all die Dinge, die ihm gegeben sind, all das, was er erreicht hat, derart geschätzt. Nie hat er sich über Kleinigkeiten derartig freuen können. Nie hat er eine derart tiefe Demut vor dem Leben verspürt. Eigenartig, dass das dem Menschen erst unter Zwang gelingt. Dass man erst in der Entbehrung den Reichtum entdeckt. Was ihn allerdings immer wieder aufs Neue und stets am meisten bedrückt, ist die Sorge um die Familie … Es klopft an seine Zellentür … ‚Ich wollte Sie nicht erschrecken‘, sagt Anstaltspfarrer Poelchau [Harald Poelchau, 1903 – 1971, hatte auch Kontakt mit Bonhoeffer, seine Widerstandstätigkeiten gegen die Nazis blieben unentdeckt] … Poelchau zieht einen gefalteten Brief aus dem Ärmel, den er Erwin überreicht. ‚Der Besuchstag Ihrer Frau ist allerdings abgelehnt worden … ebenso der Ihres Herrn Vaters‘ … Vaterlandsverräter sind schädlich für das Geschäftsklima … Auf den ersten Blick sieht Harald Poelchau aus wie ein Deutscher aus dem Bilderbuch, mit seiner schlanken, groß gewachsenen Gestalt, dem blonden Haar und den leuchtend blauen Augen. Vielleicht ist sein Aussehen das Geheimnis, warum ihn niemand auf die Schliche kommt, warum er seit Jahren unentdeckt Kassiber [geheime schriftliche Mitteilungen] an verschiedene Häftlinge aus der Opposition und dem Widerstand übermittelt … In seiner Wohnung … empfängt Poelchau regelmäßig Nelly [Erwins Frau] und einige andere Ehefrauen der inhaftierten Widerständler … Schnell entfaltet er den Brief [seiner Frau] … ‚All meine Gedanken umgeben Dich stets … Du musst es ja merken, wie lieb ich Dich habe. Wie schön wird es, wenn Du erst wieder bei mir sein wirst. Gott behüt‘ Dich, und gräme Dich nicht um mich, ich bin ja ganz bei Dir, wenn auch nur in Gedanken … Wenn er es so recht bedenkt, hat er gestern einen der schönsten Heiligabende seines Lebens verbracht. Mittags hat Pfarrer Poelchau für die Gefangenen eine erbauende Andacht gehalten … ‚Erwin ist tot‘, wiederholt Nelly nochmals, was sie selbst noch immer kaum glauben kann … er soll ganz gefasst gewesen sein … Als sie [Nelly anlässlich der Verlobung mit Erwin] an diesem Abend Anfang November 1923 in der nüchtern, aber stillvoll eingerichteten Planck’schen Villa im Grunewald [Berlin] eingeladen war, gab es eine kleine Gesellschaft. Adolf von Harnack [1851 – 1939, Universitätsprofessor für evangelische Theologie], Karl Bonhoeffer [1868 – 1948, Psychiater und Vater von Dietrich] und Hans Dellbrück [1848 – 1929, Historiker und Politiker] mit ihren Ehefrauen waren zu Gast …, die in der Nachbarschaft wohnten.“ (Schroeder, a. a. O., S. 8 – 9. 24 – 33. 159. 245)

Eberhard Bethge beschreibt in seiner umfangreichen Bonhoeffer-Biographie Bonhoeffers Zeit in der Haft in Berlin-Tegel: „Die Nacht vom 5. auf den 6. April 1943 in der Zugangszelle von Tegel war kalt … Die alte Tegeler Haftanstalt war Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis … Dort lebte Bonhoeffer zunächst im dritten Stockwerk, später … in der Einzelzelle 92 auf dem ersten Stock …, bis man ihn am 8. Oktober 1944 in den Haftkeller der Prinz-Albrecht-Straße verlegte, das Hauptgefängnis des Reichssicherheitshauptamtes … Bonhoeffers Zeit in Tegel läßt sich in drei Abschnitte gliedern. Den ersten von April bis Juli 1943 füllen die Roederschen Verhöre [Manfred Roeder, 1900 – 1971, Jurist und Nazi-Richter], er endet mit einer Anklageerhebung. Den zweiten vom August 1943 bis zum April 1944 bestimmen immer neu entfachte Hoffnungen darauf, daß es zum Prozeß käme; Termine kamen und gingen hin. Im dritten vom April 1944 bis zum September 1944 willigte Bonhoeffer in die Taktik des Versandenlassens ein. Zu dieser Zeit konzentrierte er sich von neuem auf die Theologie … Roeder selbst ging mit Bonhoeffer nach anfänglicher Härte sehr viel urbaner um als mit seinem Rechtskollegen Dohnanyi [Hans von Dohnanyi, 1902 bis 1945, Schwager Bonhoeffers]. Bonhoeffer seinerseits gab sich in der Form sehr viel kooperativer, als er in Wahrheit war. Während der Zeit der Verhöre füllte Bonhoeffer in seiner Zelle eine Menge Zettel und Bögen mit Briefentwürfen an Roeder … die erste Anklagethese auf Hoch- und Landesverrat war … nicht aufrechtzuerhalten … Die Anklage lautete nunmehr auf Wehrkraftzersetzung … Am 25. September 1943 erst wurde ein regulärer Haftbefehl gegen Bonhoeffer ausgestellt und die offizielle Anklage auf Zersetzung der Wehrkraft erhoben … ‚Im Glauben kann ich [Dietrich Bonhoeffer] alles ertragen …, auch eine Verurteilung, auch die anderen befürchteten Folgen‘ … Der Buchtitel ‚Widerstand und Ergebung‘ … hat seinen Ursprung also gar nicht im großen Zusammenhang eines hervorgehobenen Tages der Verschwörung, sondern in den quälenden, differierenden Überlegungen unter den Freunden über den zweckmäßigen Prozeßtermin … Tegel, den nordwestlichen Vorort Berlins, kannte Bonhoeffer seit seiner Jugend wegen des schönen Parks … Aus den achtzehn Monate in dieser Zelle besitzen wir mehr Zeugnisse von Bonhoeffers Hand als aus anderen Perioden seines Lebens, Zettel, Briefe, Arbeiten und literarische Versuche … Die Begleitumstände … des Zellendaseins machten Bonhoeffer … zu schaffen … Da waren die schmale Kost, der Schmutz … die Erniedrigung durch die Handfessel … Schlimmer war die Absperrung von Freunden und Familie … Als erstes machte er sich eine strikte Tageseinteilung …: körperliche Übungen, … Meditation, Auswendiglernen und Schriftlektüre … Bei diesen Anstrengungen, die neue Lage zu bewältigen, kam der Angriff auf sein inneres Gleichgewicht … immer wieder aus zwei Richtungen: er wurde unsicher, ob er um sein Leben kämpfen dürfe oder sich umbringen müsse … Eines aber lehnte er ab …: sich als ‚Leidender‘ behandeln zu lassen … Je ernster die Dinge standen, umso sparsamer wurden die Worte. Selbstmitleid wurde in der Familie nicht geduldet … Die Tegeler Belastungen konnten Bonhoeffers positive Einstellung auf die Notwendigkeiten des Tages und Ortes aber doch zerstören: ‚Es gibt erfülltes Leben trotz vieler unerfüllter Wünsche‘ … Bonhoeffers Lebenselixier in Tegel wurden die Briefe … Von solchen Briefen existieren die an seine Braut … die Briefe an die Eltern … [und] an mich … Es war für ihn der wohltätigste Selbstschutz, das Erlebnis der Haft schreibend zu objektivieren … Mit einigen Bewachern kam es zu festen Vertrauensverhältnissen … Schließlich war es der Unteroffizier Knobloch …, der ein Jahr lang die illegale Korrespondenz zwischen Bonhoeffer und mir hinein- und herausbefördert hat … Zu Weihnachten 1944 verfaßte er Gebete für Gefangene … dann empfing er seit der Lockerung nach den Verhören öfter den Besuch von zwei Geistlichen der Berliner Kirche … Der zweite war Pfarrer Dr. Harald Poelchau … er wagte seit Ende 1943 immer öfter den illegalen Schritt in Bonhoeffers Zelle … Gottesdienste hat es für Bonhoeffer seit dem Frühjahr 1943 nie mehr gegeben … Er lebte das Leben von Hunderten um ihn herum und teilte ihre Ängste, Entbehrungen und kleinen Freuden … Grippe, Rheuma und Magenerkrankungen … wurden sofort mit allen nötigen medizinischen Mitteln bekämpft … Und in der allgemeinen Gefährdung des Lebens um ihn herum schrieb er geordnete Testamente … Und dazu gab es das Wichtigste für ihn: die viele Korrespondenz …“ (Eberhard Bethge, Dietrich Bonhoeffer, S. 897 – 957)                      

Fragen zum Nachdenken:

  • Würdest Du wegen Deiner religiösen oder politischen Überzeugung ins Gefängnis gehen? Wie würdest Du dann Deinen Tagesablauf gestalten?
  • Was hat Dich bei den Beschreibungen von Plancks und Bonhoeffers Haft angesprochen?   
  • Was soll ein Gefängnispfarrer in seiner Predigt für einen Gottesdienst mit Gefangenen sagen?

Lesen wir bis zum Rundbrief November 2022:
Psalm 80; Matthäus-Evangelium, Kapitel 24, Verse 1 - 14              

Liebe Grüße, Euer Obmann Uwe