Rundbrief 2022-03 Judenfrage

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HAPAX und ein herzliches Hallo zum Rundbrief März 2022!

Am 20. Jänner 1942, also vor gut 80 Jahren, kamen 15 hochrangige und gebildete Vertreter (Durchschnittsalter war 42,5 Jahre) des NS-Regimes in einer Villa des großen Wannsees in Berlin zu einer Konferenz zusammen, um die Endlösung der Judenfrage zu besprechen und zu beschließen. Es ging um die systematische Ermordung von 11 Millionen Juden in Europa.

Vorsitz der Konferenz hatte der SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich. Auf unserer Homepage findet Ihr unter „Wir empfehlen“ einen Link mit Infos zur Konferenz und zu einem neuen Spielfilm über diese, der am 24. Jänner 2022 im ZDF und auf ORF 2 zu sehen war.


Villa der Wannseekonferenz im Jahre 2014
Quelle: commons.wikimedia.org

Die Teilnehmer der Wannsee-Konferenz waren: Dr. Josef Bühler (1904 - 1948, war Staatssekretär der Regierung des Generalgouvernements in Krakau und mitverantwortlich an dem Massenmord der polnischen Juden; er wurde 1948 vom obersten Volkstribunal Polens zum Tode verurteilt und in Krakau hingerichtet);

Adolf Eichmann (1906 - 1962, war Leiter der Abteilung Judenangelegenheiten und Räumungen im Reichssicherheitshauptamt, war auf der Wannsee-Konferenz für das Protokoll verantwortlich und hatte eine zentrale Rolle bei der Ermordung der europäischen Juden; er wurde 1961 von einem israelischen Gericht zum Tode verurteilt); Dr. Roland Freisler (1893 - 1945, war Jurist und Staatssekretär im Reichsjustizministerium, seit 1942 Präsident des Volksgerichtshofs und fällte tausende Todesurteile gegen politische Gegner); Reinhard Heydrich (1904 - 1942, war Chef des Reichssicherheitshauptamts, der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes, er leitete die Wannsee-Konferenz und starb im Juni 1942 an den Folgen eines Attentats in Prag); Otto Hofmann (1896 - 1982, war Chef des Rasse- und Siedlungshauptamts und beteiligt an der Germanisierungspolitik in Polen und in der Sowjetunion); Dr. Gerhard Klopfer (1905 – 1987, war stellvertretender Leiter der Partei-Kanzlei der NSDAP); Friedrich Wilhelm Kritzinger (1890 - 1947, war Pfarrerssohn (!) und als Ministerialdirektor in der Reichskanzlei für das Judenproblem zuständig); Dr. Rudolf Lange (1910 - 1945, war Kommandeur der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes in Lettland, organisierte Massenerschießungen in der Sowjetunion); Dr. Georg Leibbrand (1899 - 1982, war Ministerialdirektor im Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete); Martin Luther (1895 – 1945, war Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt und zuständig, die Deportation von Juden aus besetzten Ländern diplomatisch abzusichern, sein Exemplar des Protokolls der Wannseekonferenz ist das einzig erhaltene); Dr. Alfred Meyer (1891 - 1945, war Staatssekretär im Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete und maßgeblich beteiligt an der Ausbeutung und Plünderung der besetzten sowjetischen Gebiete); Heinrich Müller (1900 – 1945, war Leiter der Geheimen Staatspolizei – Gestapo); Erich Neumann (1892 - 1951, war Staatssekretär und vertrat auf der Wannsee-Konferenz die Ministerien für Wirtschaft, Arbeit, Finanzen, Ernährung, Verkehr und für Bewaffnung und Munition); Dr. Eberhard Schöngarth (1903 - 1946; war Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes, war maßgeblich an allen Unterdrückungs- und Vernichtungsmaßnahmen gegen die polnische und jüdische Bevölkerung im besetzten Polen beteiligt; Dr. Wilhelm Stuckart (1902 - 1953, war Staatssekretär im Reichsministerium des Inneren und an der Ausarbeitung aller grundlegenden Gesetze und Verordnungen gegen die im Deutschen Reich wohnenden Juden beteiligt); Ingeburg Werlemann, (1919 - 2010, war Sekretärin Adolf Eichmanns, schrieb bei der Konferenz mit und tippte das Protokoll ab). 
In dem einzig erhaltenen [das von Martin Luther] 15-seitigen Protokoll heißt es (Quelle: Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, www.ghwk.de): „Der Chef der Sicherheitspolizei [Reinhard Heydrich] … gab sodann einen kurzen Rückblick über den bisher geführten Kampf gegen diesen Gegner. Die wesentlichsten Momente bilden a. die Zurückdrängung der Juden aus den einzelnen Lebensgebieten des deutschen Volkes, b. die Zurückdrängung der Juden aus dem Lebensraum des deutschen Volkes. Im Vollzug dieser Bestrebungen wurde als einzige vorläufige Lösungsmöglichkeit die Beschleunigung der Auswanderung der Juden aus dem Reichsgebiet verstärkt und planmäßig in Angriff genommen … Das Aufgabenziel war, auf legale Weise den deutschen Lebensraum von Juden zu säubern … Die Finanzierung der Auswanderung erfolgte durch die Juden bzw. jüdisch-politischen Organisationen selbst … Anstelle der Auswanderung ist nunmehr als weitere Lösungsmöglichkeit … die Evakuierung der Juden nach dem Osten getreten … Im Zuge dieser Endlösung der europäischen Judenfrage kommen rund 11 Millionen Juden in Betracht … Unter entsprechender Leitung sollen nun im Zuge der Endlösung die Juden in geeigneter Weise im Osten zum Arbeitseinsatz kommen. In großen Arbeitskolonnen, unter Trennung der Geschlechter, werden die arbeitsfähigen Juden straßenbauend in diese Gebiete geführt, wobei … der Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird … Im Zuge der Endlösungsvorhaben sollen die Nürnberger Gesetze … die Grundlage bilden, wobei Voraussetzung für die restlose Bereinigung des Problems auch die Lösung der Mischehen und Mischlingsfragen ist … Der von der Evakuierung auszunehmende Mischling 1. Grades wird – um jede Nachkommenschaft zu verhindern und das Mischlingsproblem endgültig zu bereinigen – sterilisiert. Die Sterilisierung erfolgt freiwillig. Sie ist aber Voraussetzung des Verbleibens im Reich … Um zum anderen auf alle Fälle auch den biologischen Tatsachen Rechnung zu tragen, schlug Staatssekretär Dr. Stuckart vor, zur Zwangssterilisierung zu schreiten … Staatsekretär Dr. Bühler stellte fest …, wenn mit der Endlösung dieser Frage im Generalgouvernement [Teile Polens mit der Hauptstadt Krakau] begonnen würde, weil gerade hier der Jude als Seuchenträger eine eminente Gefahr bedeutet und er zum anderen durch fortgesetzten Schleichhandel die wirtschaftliche Struktur des Landes dauernd in Unordnung bringt. Von den in Frage kommenden etwa 2 ½ Millionen Juden sei überdies die Mehrzahl der Fälle arbeitsunfähig … Abschließend wurden die verschiedenen Arten der Lösungsmöglichkeiten besprochen [Verhungern, Erschießungen, Gas etc., im Film wird darüber diskutiert, im Protokoll steht nichts über diese Maßnahmen] …, wobei jedoch eine Beunruhigung der Bevölkerung vermieden werden müsse. Mit der Bitte des Chefs der Sicherheitspolizei [Reinhard Heydrich] und des SD [Sicherheitsdienst] an die Besprechungsteilnehmer, ihm bei der Durchführung der Lösungsarbeiten entsprechende Unterstützung zu gewähren, wurde die Besprechung [dauerte 1,5 Stunden] geschlossen.“             

Mit der nationalsozialistischen Machtergreifung ab dem 30. Jänner 1933 wurde Bonhoeffer rasch klar und deutlich, dass diese großes Unheil über Deutschland und Europa bringen werde. Ihm wurde auch bewusst, dass die Evangelische Kirche in Deutschland vor einem großen Wendepunkt stehen würde, nämlich vor der Entscheidung zum deutsch-nationalen Christentum, das die Rassegesetze der Nazis befürwortet oder zum Evangelium von Jesus Christus, das diese massiv ablehnt. Als am 7. April 1933 das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ in Kraft trat, das ein Berufsverbot für Menschen jüdischer Abstammung im öffentlichen Dienst (Lehrer, Pfarrer, Polizisten, Verwaltungsbeamte etc.) proklamierte, verfasste Bonhoeffer den Vortrag „Die Kirche vor der Judenfrage”, den er einige Tage nach der Veröffentlichung des Gesetzes vor Berliner Pfarrern hielt. In seinen Worten und Ausführungen finden sich wichtige Grundsatzentscheidungen für seinen Weg in den Widerstand gegen die Deutschen Christen und den Nationalsozialismus.

In seinem Vortrag heißt es: „Zweifellos ist die reformatorische Kirche nicht dazu angehalten, dem Staat in sein spezifisch politisches Handeln direkt hineinzureden. Sie hat staatliche Gesetze weder zu loben noch zu tadeln, sie hat vielmehr den Staat als Erhaltungsordnung Gottes in der gottlosen Welt zu bejahen … Ohne Zweifel ist eines der geschichtlichen Probleme, mit denen unser Staat fertig werden muß, die Judenfrage, und ohne Zweifel ist der Staat berechtigt, hier neue Wege zu gehen … Die wahre Kirche Christi aber, die allein vom Evangelium lebt und um das Wesen des staatlichen Handelns weiß, wird dem Staat nie in der Weise ins Handwerk greifen … Sie weiß um die wesenhafte Notwendigkeit der Gewaltanwendung in dieser Welt und um das mit der Gewalt notwendig verbundene moralische Unrecht bestimmter konkreter Akte des Staates. Die Kirche kann primär nicht unmittelbar politisch handeln; denn die Kirche maßt sich keine Kenntnis des notwendigen Geschichtsverlaufes an. Sie kann also auch in der Judenfrage heute nicht dem Staat unmittelbar ins Wort fallen, und von ihm ein bestimmtes andersartiges Handeln fordern … Aber das bedeutet nicht, daß sie teilnahmslos das politische Handeln an sich vorüberziehen läßt; sondern sie kann und soll, gerade weil sie nicht im einzelnen Fall moralisiert, den Staat immer wieder danach fragen, ob sein Handeln von ihm als legitim staatliches Handeln verantwortet werden könne, d. h. als Handeln, in dem Recht und Ordnung, nicht Rechtlosigkeit und Unordnung, geschaffen werden. Sie wird diese Frage mit allem Nachdruck dort zu stellen aufgerufen sein, wo der Staat gerade in seiner Staatlichkeit, d. h. in seiner mit Gewalt Recht und Ordnung schaffenden Funktion bedroht erscheint. Sie wird diese Frage heute in bezug auf die Judenfrage in aller Deutlichkeit stellen müssen. Sie greift damit gerade nicht in die Verantwortlichkeit des staatlichen Handelns ein, sondern schiebt im Gegenteil dem Staat selbst die ganze Schwere der Verantwortung für das ihm eigentümliche Handeln zu. Sie befreit den Staat so von jedem moralisierenden Vorwurf und weist ihn eben hierdurch in seine ihm vom Erhalter der Welt angeordnete Funktion. Solange der Staat Recht und Ordnung schaffend handelt … kann sich die Kirche des Schöpfers, Versöhners und Erlösers nicht unmittelbar politisch handelnd gegen ihn wenden. Sie vermag freilich den einzelnen sich dazu aufgerufen wissenden Christen nicht daran zu verhindern, den Staat gegebenenfalls als unhuman anzuklagen, aber sie wird als Kirche nur danach fragen, ob der Staat Ordnung und Recht schafft oder nicht … Sowohl ein Zuwenig an Ordnung und Recht als auch ein Zuviel an Ordnung und Recht zwingt die Kirche zum Reden. Ein Zuwenig ist jedesmal dort vorhanden, wo eine Gruppe von Menschen rechtlos wird … Der Staat, der die christliche Verkündigung gefährdet, verneint sich selbst. Das bedeutet eine dreifache Möglichkeit kirchlichen Handelns dem Staat gegenüber: erstens … die an den Staat gerichtete Frage nach dem legitim staatlichen Charakter seines Handelns, d. h. die Verantwortlichmachung des Staates. Zweitens der Dienst an den Opfern des Staatshandelns. Die Kirche ist den Opfern jeder Gesellschaftsordnung in unbedingter Weise verpflichtet, auch wenn sie nicht der christlichen Gemeinde zugehören. „Tut Gutes an jedermann.“ In beiden Verhaltungsweisen dient die Kirche dem freien Staat in ihrer
freien Weise, und in Zeiten der Rechtswandlung darf die Kirche sich diesen beiden Aufgaben keinesfalls entziehen. Die dritte Möglichkeit besteht darin, nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen [die Bonhoefferbiographie von Renate Wind, die wir innerhalb unserer Versammlungen gelesen haben, heißt „Dem Rad in die Speichen fallen: die Lebensgeschichte des Dietrich Bonhoeffer“ – sehr empfehlenswert]. Solches Handeln wäre unmittelbar politisches Handeln der Kirche und ist nur dann möglich und gefordert, wenn die Kirche den Staat in seiner Recht und Ordnung schaffenden Funktion versagen sieht, d. h. wenn sie den Staat hemmungslos ein Zuviel oder ein Zuwenig an Ordnung und Recht verwirklichen sieht. In beiden muß sie dann die Existenz des Staates und damit auch ihre eigene Existenz bedroht sehen. Ein Zuwenig läge vor bei der Rechtlosmachung irgendeiner Gruppe von Staatsuntertanen, ein Zuviel läge dort vor, wo vom Staate her in das Wesen der Kirche und ihre Verkündigung eingegriffen werden sollte, d. h. etwa in dem zwangsmäßigen Ausschluß der getauften Juden aus unseren christlichen Gemeinden … Hier befände sich die christliche Kirche in statu confessionis [außergewöhnlicher Bekenntnisfall der Kirche] und hier befände sich der Staat im Akt der Selbstverneinung … Ein Staat, der sich eine vergewaltigte Kirche eingliedert, hat seinen treuesten Diener verloren. Aber auch dieses dritte Handeln der Kirche, das gegebenenfalls in den Konflikt mit dem bestehenden Staat führt, ist nur der paradoxe Ausdruck ihrer letzten Anerkennung des Staates, ja die Kirche selbst weiß sich hier aufgerufen, den Staat als Staat vor sich selbst zu schützen und zu erhalten. In der Judenfrage werden für die Kirche heute die beiden ersten Möglichkeiten verpflichtende Forderungen der Stunde. Die Notwendigkeit des unmittelbar politischen Handelns der Kirche hingegen ist jeweils von einem evangelischen Konzil zu entscheiden …“ (Quelle: Dietrich Bonhoeffer: Berlin 1932 – 1933, DBW 12, S. 349 – 358)

Fragen zum Nachdenken:

  • Was meinst Du zu der Teilnehmerzahl und zum Profil der Teilnehmer der Wannsee-Konferenz?
  • Welche Aussagen des Protokolls der Wannsee-Konferenz findest Du besonders abstoßend?
  • Welche Aussagen Bonhoeffers sprechen Dich an?
  • Welche Aussagen Bonhoeffers lassen sich auf aktuelle Anlässe der gegenwärtigen Zeit beziehen?

Lesen wir bis zum Rundbrief April 2022: Psalm 73; Matthäus-Evangelium, Kapitel 22, die Verse 23 - 33            

Liebe Grüße, Euer Obmann Uwe