DER TRAUM VOM FRIEDEN IN EUROPA. Die Ukraine im Interessenkonflikt der Großmächte

Dr. Detlef Bald

Vor den Darlegungen zum Thema Krieg in Europa und Frieden in der Ukraine, – was zu dem militärischen Angriff russischer Truppen am 24. Februar 2022 gegen das Territorium der Ukraine, der russischen Spezialoperation, führte – ist grundlegend klar festzuhalten, dass der Angriff ein Eroberungskrieg ist, nicht akzeptabel und widerrechtlich ist. Dieses politische und ethische Urteil geht allem voraus. Es ist schwierig, mit Krieg und Angriff oder Drohungen mit Macht umzugehen. Daher mögen einige allgemeine Einordnungen oder Hinweise auf Theorien zu Kriegen, Konflikten, Krisen Orientierung geben; sie helfen zum Nachdenken, Motive und Handeln der Politik zu verstehen und zu  erkennen – vier Ansätze thesenhaft, natürlich sehr verkürzt vorgestellt.

Auf dem vorletzten Evangelischen Kirchentag (2021) moderierte Thomas de Maizière eine AG zur Friedensfrage. Jens Stoltenberg (NATO-Gensekretär) eröffnete mit den Worten: Si vis pacem para bellum. Das Zitat von Cicero verführt aktuell zum Gedanken an  Kriegstüchtigkeit, da man Cicero um seine Forderungen nach Rationalität und nach dem politischen Ethos verkürzt.

Zum Friedensgebot führt die Goldene Regel nach Immanuel Kant hin; volkstümlich verlangt diese Ethik: Was Du nicht willst, was man Dir tue, füge auch keinem andern zu. Diese Faustregel der Aufklärung fordert für die internationale Politik Stabilität und gebietet Frieden.

Max Weber ist hilfreich, da er in der Politik Verantwortung und Augenmaß einfordert, damit „die Folgen des Handelns“ vor der Entscheidung beachtet werden. Also: Geltung der Vernunft, um in Verantwortung die Folgen des politischen Handelns abzuklären. Die gute Absicht als Motiv für Handeln schade nur, denn sie fördere die Gesinnungsethik; diese widerspreche der Verantwortungsethik.

Das Christentum hingegen hatte von alters her eine Werte basierte Regel für das Gute – den Gerechten Krieg – und, mit diesem Maß, Kriege aller Art von Kreuzzügen bis zum Kolonialismus befürwortet; also: Kriege „sakrifiziert“; so bezeichnete Dietrich Bonhoeffer diese Geschichte der expansiven Macht des Abendlandes. Maria Theresia erkannte diese Fährte, als sie in Schönbrunn an dem Denkmal (Gloriette) die Schrift anbringen ließ: Dem „gerechten Krieg, der zum Frieden führt“. Die Kirche rechtfertigte Kriege gegen das Böse viel zu lange, so wie noch 1918 Pfarrer Gottes Wille zum Sieg des Reiches verkündeten. Heute ist vieles anders; allerdings erkennt man in der Gegenwart die fundamentalistisch religiöse Legitimierung des „Guten Krieges“ im Christentum bei Evangelikalen im Westen, bei Kyrill in der christlichen Kirche in Moskau, bei Ultra-Orthodoxen Juden in Israel sowie bei schiitischen Muslimen im Nahen Osten.

Wenn eine Erklärung für die Politik der Ukraine im Rahmen der Macht zwischen den USA und Russland zu finden ist, muss dieser Rahmen deutlich werden. Welche Interessen bestehen? Was sind notwendige Fakten und Ursachen, die zu Spannungen und am Ende zum Krieg führten? Für unser Thema: Wie finden wir Deutlichkeit für den Frieden in Europa und im Krieg in der Ukraine; allgemein: Was gibt Orientierung heute – bei den überrollenden Wellen im Mainstream der Leitmedien? Wenn Einzelne Frieden fordern, werden sie mit verächtlichem Ton als Putinversteher oder auch nur als falsche Pazifisten klassifiziert; unterstellt wird dabei häufig, mit dem Ruf nach Frieden diesen Angriff zu rechtfertigen. Wer ein Ende des Krieges ohne Sieg über Verhandlungen fordere, unterstütze den Angreifer, das Böse, personifiziert in Putin. Gesinnung ersetzt hierbei die Analyse. Fakten und Macht oder Interessen eines hoch komplexen Geschehens werden vernebelt.

Die Ausgangslage – das Ende des Weltkrieges

Der Historiker schaut in die Geschichte. Ein Ausgangspunkt für die Länder in Europa ist zunächst der Erste Weltkrieg. In seinen 14 Thesen über den Nachkriegsfrieden hatte US-Präsident Wilson das Ideal der nationalen Souveränität nach den Prinzipien der religiösen und der sprachlichen Einheit aufgestellt, die sich in den Herrschaftsräumen der Kaiserreiche in Deutschland und Österreich sowie des Zarenreichs in Russland bilden könnten. So entstand der ostmitteleuropäische Kreis an Staaten von der Ostsee bis zum Schwarzen- sowie zum Mittelmeer; auf diese Weise erhielt die Ukraine 1918 ihre Staatlichkeit zuerkannt, sobald dann inkorporiert in die Union in Moskau. Eine weitere Zäsur bildet der Zweite Weltkrieg. Die Wehrmacht eroberte das Land. Ukrainischen Soldaten bildeten nach 1941 zunächst einen normalen Teil der Roten Armee gegen die Wehrmacht; allein dies ist nur die halbe Wahrheit. Es gab eine Art Verbrüderung des westlichen Teils der Ukraine mit den Deutschen; hier wirkte das Nationalistische, aber auch das Faschistische als Ideal. Unter Stepan Bandera kämpften sie mit der Wehrmacht gegen die Rote Armee; Eliten bildeten die „SS-Division Galizien“; Ziel war eine völkische Ukraine ohne Polen, Juden (mit großen Massakern) und, das galt auch, ohne Russen. Offenkundig eine brutale Zerrissenheit, da faschistische Soldaten aus der Ukraine gegen Soldaten der Roten Armee aus der Ukraine kämpften. Zerrissenheit. Unversöhnlich: Ost- und Westukraine.

Der große Vertrag über die Zukunft nach der Kapitulation 1945 wurde in Potsdam 1945 von der Großen Drei, der Sowjetunion, den USA und Großbritannien, in Schloss Cecilienhof unterzeichnet. Er regelte die Grenzen der Staaten und die internationalen Einflussgebiete im Kriegsgebiet in Europa nach Ost und West, auch für die Ukraine, die als „Sozialistische Sowjetrepublik Ukraine“ ein Staat der „Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken“ wurde. Die Sieger des Krieges wollten in Potsdam 1945 eine einheitliche Akzeptanz der Grenzen in Europa. Die Verträge ordneten nicht nur drei deutsche Besatzungszonen, sondern auch die Einfluss- und Interessengebiete nach Ost und West. Doch bald gab es einen Bruch, als, von den Amerikanern initiiert und im Westen bejubelt, die D-Mark eingeführt wurde. Denn damit brachen die USA Teile der gerade geschlossenen Verträge; die Sowjetunion fühlte ihr Misstrauen bestärkt; der Kalte Krieg hatte seine erste, heiße Krise. Dennoch: Man einigte sich schließlich, dass Potsdam, wichtige gemeinsame Rechte der Sieger aus dem Krieg, in den jeweiligen Interessensgebieten Gültigkeit behielt.

Die Friedensordnung für Europa

Was hat das Alte, das Geschehen von vor rund 80 Jahren, mit der Ukraine zu tun? Zunächst, so erscheint es, gar nichts. Nur, aus Potsdam 1945 bestanden Rechte als Sieger fort bis 1990. Erst mit dem 2+4-Vertrag wurde völkerrechtlich eine Art Friedensvertrag der kriegführenden Staaten mit Deutschland geschlossen; damit verloren die Sieger des Krieges ihre Rechte aus dem Krieg nicht nur in Deutschland; in dem großen Friedensvertrag vom 12. September 1990, der Charta von Paris, erfolgten die weiteren für Europa gültigen Festlegungen. Damit fand der Kalte Krieg mit der bipolaren Konfrontation der USA und der Sowjetunion 55 Jahre nach 1945 im Jahr 1990 sein Ende. Diese Charta betraf alle Staaten, die im Bündnis mit den USA und der SU im Krieg gegen das NS-Regime waren – und insofern alle Staaten, die nach 1945 in der NATO mit den USA oder im Warschauer Vertrag mit der Sowjetunion verbunden waren. Die Ukraine war von dieser Charta und weiteren Verträgen betroffen, was ihre Staatlichkeit wie Souveränität betraf.

Die allgemeinen Grundsätze der Charta für eine „Friedensordnung in Europa“ zielten auf „die Sicherheitsinteressen eines jeden“ Staates. In einer zentralen Formel versicherten die Länder: „Die Bereitschaft, die Sicherheit zu stärken, insbesondere durch wirksame Maßnahmen zur Rüstungskontrolle, Abrüstung und Vertrauensbildung; ihre(r) Bereitschaft, sich gegenseitig nicht als Gegner zu betrachten…“. Mit den Verträgen von KSE und INF (1987) ging es um das Ziel einer „strukturellen Nichtangriffsfähigkeit“ vom Atlantik bis zum Ural; es galt das Prinzip der „gemeinsamen Sicherheit“. Wichtige praktische Folgen erfasste vor allem der KSE-Vertrag (19. November 1990). Dadurch erfolgten massive Abrüstungen in Mitteleuropa diesseits und jenseits der Elbe. Gerne wird der Abzug von etwa 350.000 sowjetischer Soldaten aus der ehemaligen DDR erinnert; im Westen der Republik wird übersehen, dass ebenso etwa 350.000 Truppen aus den USA, Canada und Großbritannien abgezogen wurden; denn sie unterstanden nicht der NATO, sondern waren nationale Kontingente und waren nach Kriegs-Folge-Recht stationiert. Gravierend waren die großen Abrüstungen für die deutschen Truppen; sie wurden bis 1995 um einige Hundertausende reduziert; Panzer, Kanonen, Raketen und Haubitzen um Tausende dezimiert, wie in ganz Mitteleuropa. Auch das Herzstück der Macht des Kalten Krieges war betroffen. Die USA und die Sowjetunion zogen ihre taktischen A-Waffen ab. In Deutschland betraf es die noch 1994 hier lagernden etwa 2.000 A-Waffen, trotz des Widerstandes von Kanzler Helmut Kohl. Denn auch andere Staaten wollten mit diesen A-Waffen ihre Souveränität verteidigen, wie das Beispiel Ukraine lehrt. Auch sie versuchte, eine minimale Zahl an A-Waffen unter eigene Kontrolle zu bringen; nach internationalem Recht wurden auch diese A-Waffen auf dem Gebiet der Ukraine abgezogen und vernichtet.

Allein: die neue Ordnung ließ neue Nationalstaaten zu; sie konnten sich jeweils regional – vom Baltikum bis Georgien –  entwickeln und durchsetzen. Eigentlich eine ungeheuerliche, gewaltige politische Sensation: Neue friedliche Grenzziehungen. Die Konstellation versprach ein neues Haus Europa, in dem jeder, wie Gorbatschow sagte, sein eigenes Zimmer habe. Er und auch Jelzin aber hatten große Bedenken zur Staatsgründung der Ukraine, denn die „drei brüderlichen slawischen Völker“ müssten vereint bleiben. Der russischstämmige Teil der Bevölkerung im Osten wollte die alte Ordnung erhalten, der andere folgte der Parole „zurück nach Europa“ – die Identität des Landes war wie 1941 auch bei der Gründung 1994 gespalten.

Unipolare US-Tendenzen

Für die Lage heute geben kleine Ereignisse Anlass zum Aufmerken. Dass Präsident Bush Kanzler Kohl 1990 die Hand reichte, Deutschland solle an der Seite der USA globale Mitverantwortung übernehmen, überraschte manche Beobachter. Doch bald danach hörte man von der andern Seite des Atlantiks das Wort von Francis Fukuyama vom „End of History“, vom zu erreichenden Ziel der Geschichte; Brzezinski, der Berater der US-Regierung, wies in Gutachten der Politik die Richtung hin zur „einzigen Weltmacht“, was in den USA die Experten mit dem Begriff der „unipolaren“ Ordnung übernahmen. Das schien realistisch, insoweit der Warschauer Pakt sich auflöste, die Sowjetunion zerfiel und ein territorial geschwächtes Russland blieb übrig. In Amerika wuchs der Wunsch, diese „günstige Machtbalance“ zu erhalten und „eine dauerhafte amerikanische Präsenz“ zu sichern mit dem klaren Ziel: „angesichts beginnender europäischer Forderungen nach einer unabhängigen Verteidigungsidentität“ dürfe die NATO „nicht ersetzt werden durch die Europäische Union“ (PNAC); radikal zeigten sich die US-Interessen.

Die US-Dominanz wurde 1999 deutlich, sie erzeugte einen ersten Riss in dem 1990 anvisierten Frieden der „gemeinsamen und unteilbaren Sicherheit“. Bei der ethnisch-nationalen Auflösung Jugoslawiens führten die NATO-Staaten unter Leitung der USA Luftangriffe gegen Serbien, um die Abtrennung des Kosovo zu sichern. Das war der Präzedenzfall einer Regelverletzung der Charta; im doppelten Sinne völkerrechtswidrig, da zumeist Uran-Munition verwendet wurde – mit langfristigen Folgen für die Bevölkerung, bis heute.

Das war zugleich der Beginn der hochpolitischen Osterweiterung der NATO. Die war schon 1990 ein Thema gewesen, ob nach der Einigung das Territorium der DDR NATO-Gebiet werden könne. Damals, 1991, warnten Gorbatschow und später Jelzin, das westliche Bündnis bis an russische Grenzen auszudehnen, wiederholt, jahrelang. Die NATO-Erweiterung begann 1999 mit Polen, Ungarn, Tschechien usw., bis ihre Zahl aus vormals 16  Mitgliedern inzwischen auf 32 angewachsen ist. Natürlich steckt hinter dieser Entwicklung auch ein nationales Schutz- und Sicherheitsinteresse der Staaten, wie nach 2022, also mit Kriegsbeginn in der Ukraine, erkennbar ist, als die nordischen Staaten sich um Mitgliedschaft in der NATO bewarben.

Die regionale Ausdehnung der NATO ist kein normaler Vorgang. Zwei Zitate aus jener Zeit warnen vor der unipolaren Geopolitik der USA deutlich: „Wenn ich ein sowjetischer Marschall wäre oder ein Oberst, würde ich die Ausdehnung der NATO-Grenzen, erst von der Elbe an die Oder oder dann über die Weichsel hinaus bis an die polnische Ostgrenze für eine Provokation und eine Bedrohung des Heiligen Russland halten. Und dagegen würde ich mich wehren.“ Und in geradezu prophetischer ging es weiter: „Und wenn ich mich heute dagegen nicht wehren kann, werde ich mir vornehmen, diese morgen zu Fall zu bringen.“ Diese Worte stammen von Helmut Schmidt (Mitte der 90er Jahre), einem militärisch versierten Politiker. Dann sei George F. Kennan, der Direktor Planung im US-Außenministerium zitiert; seine Sorge (1997) galt dem unipolaren US-Konzept: „Diese Entscheidung kann erwarten lassen, dass nationalistische, antiwestliche und militaristische Tendenzen in Russland“ entstehen, „dass sie die Atmosphäre des Kalten Krieges in den Beziehungen zwischen dem Osten und Westen wieder herstellt und die russische Außenpolitik in Richtungen treibt, die uns entschieden missfallen werden.“ Diese Warnungen erfolgten frühzeitig.

Zuspitzung statt Chancen zur Umkehr?

Trotz des Bombardements in Serbien und der ersten Schritte, die NATO nach Osten zu erweitern, trat Wladimir Putin 2001 mit seiner berühmten Rede in Berlin vor dem Bundestag für die Ost-West-Beziehungen in einem „Gemeinsamen Haus Europa“ ein; er suchte gemäß der Charta kooperative Beziehungen zum Westen – unter euphorischem Beifall des Bundestages auf allen Seiten. Doch die US-Strategie, das NATO-Gebiet auszuweiten, blieb bestehen; allein Putins Warnung vor einer Osterweiterung hin zur Ukraine wurde nicht ernst genommen. Er wählte dann 2007 eine harsche, offene Sprache auf der Münchner Sicherheitskonferenz: Er warnte  davor, die NATO bis an die Grenzen Russlands auszuweiten; dies sei ein offensiver Akt und nicht im Einklang mit der Charta von Paris.

Aus Moskau drangen dann andere Töne herüber – um 2005 wurde es erkennbar. War es die ökonomische Konsolidierung und der Aufbau eines starken Staates im Innern nach dem Beinah-Zerfall der SU ein Jahrzehnt zuvor? Eine Rückbesinnung auf die glorreiche Geschichte, auf Glanz und Größe des Zarenreiches, den Sieg über Napoleon sowie den Vaterländischen Krieg der Befreiung von deutscher Herrschaft fand statt. Diese glorreichen Zeiten wurden zudem mit dem politisch reichen Segen der orthodoxen Kirche erleuchtet, um das Narrativ des Heiligen Russland für die Gegenwart wieder wirksam entstehen zu lassen: Make Russia Great! Der Konfliktrahmen wird erkennbar.

Die Reaktion des Westens? Auf dem NATO-Gipfel 2008 in Bukarest (1.) versuchten die USA einen Beschluss über den Beitritt Georgiens und der Ukraine durchzusetzen. Mit Mühe verhinderte diesen Plan NATO-Europäer, voran Kanzlerin Merkel und Präsident Sarkozy. Dennoch wurde die offene Beitrittsperspektive verkündet. Auf der viel bedeutsameren militärischen Ebene kündigten (2.) die USA 2019 den INF-Vertrag, der Raketen mit einer Reichweite über 500 Km verbot; russische Raketen in Kaliningrad bildeten nur ein Schein-Argument; denn Russland bat zweimal um Überprüfung gemäß dem INF-Vertrag; die USA lehnten ab und stationierten in Polen und Rumänien ein Raketensystem mit strategischen Waffen. (3) Ebenso 2019 erfolgten jährliche Großmanöver an der NATO-Ostflanke mit 50.000 Soldaten. „Defender 24“ umfasste nun 90.000 Soldaten; und (4) sollen gemäß US-Planungen ab 2026, Raketensysteme einer strategisch-offensiven Brigade (Lüdeking) in Deutschland stationiert werden.

Der US-Macht-Ausbau fand heftigen Widerspruch von deutschen Experten, es waren prominente Politiker: Horst Teltschik (Münchner Sicherheits- Konferenz), Staatssekretär Willy Wimmer, Kommissar Günter Verheugen, General Erich Vad (Berater bei Merkel); sogar Henry Kissinger sowie General Harald Kujat. Auch Klaus von Dohnanyi warnte wegen dieser NATO-Politik vor einem Konflikt: „Die USA würden in Europa im Zweifel immer nur aus eigenem geopolitischem Interesse militärisch agieren… Wir werden nicht gefragt!... Ein Krieg zwischen den USA und Russland werde wegen der Interessenlage der Großmächte nur auf europäischem Boden… stattfinden.“

Am Ende die militärische Lösung

Irritierend und unübersichtlich bleiben die wirklichen, politisch-gesellschaftlichen und militärischen Aktionen oder Interventionen bis 2014 im Osten der Ukraine, also in den Provinzen, den Oblasten Lugansk, Donezk sowie der Krim. Dann kam das Ereignis des Maidan. Die gewählte prorussische Regierung Janukowytsch wurde gestürzt unter Beteiligung ausländischer Gruppen aus dem Westen, und der prowestliche Präsident Poroschenko eingesetzt; die Proteste auch von Milizen ostukrainischer und russischer Gruppen führten zu militärischen Unruhen. Frieden sollte noch 2014 geschlossen werden durch internationale Verträge. Klar ist das von Kanzlerin Merkl und Präsident Sarkozy am 5. September mit unterzeichnete und vom Sicherheitsrat der UNO bestätigte Abkommen (Minsk I + II): Nämlich Waffenstillstand. Diese Region des Dombass war praktisch von Russen bewohnt, 95 % hatten russische Pässe und wurden in Minsk zu Autonomie-Regionen erklärt, die nach einer Volksabstimmung wohl zu Russland kommen würden; Lösung der Zugehörigkeit der Krim in 15 Jahren. Realität (wie vor und nach 2014) war Bürgerkrieg (UN: 14.000 Tote) im Osten der Ukraine; Kiew intervenierte dort mit Truppen ebenso wie Moskau. Poroschenko wollte den Minsker Vertrag nicht erfüllen. Und Berlin oder Paris? Bereits bald nach 2014 wurde die Zahl der westlichen Militärberater in der Ukraine erhöht; vor allem zivile US-Experten taten dort ihren Dienst; um Ausbildung von Soldaten ging es wohl hauptsächlich; auch ein deutscher General hat mit einem kleineren Stab Beratungen erledigt.

Russland unternahm vor dem Beginn seiner Spezialoperation noch eine diplomatische Initiative und legte im Herbst 2021 dem Westen einen Vertragsentwurf vor, in dem es erklärte, jede Intervention unter der Bedingung zu unterlassen, die Neutralität der Ukraine zu erklären und sie nicht in die NATO aufzunehmen. Dazu Worte von Stoltenberg: Putin habe „tatsächlich einen Vertragsentwurf geschickt, den die NATO unterzeichnen sollte ... Das haben wir natürlich nicht unterschrieben… Also zog er in den Krieg, um die NATO… in der Nähe seiner Grenzen zu verhindern. Er hat das genaue Gegenteil erreicht. Er hat mehr NATO-Präsenz…“. Zynisch in Worten.

Kiew blieb militärisch nicht unbeteiligt. Zuvor, vor der russischen Invasion, am 24. März 2021 unterzeichnete Selenskyj ein Dekret, die russische „vorübergehende Besetzung“ von Dombass und Krim zu beenden; die Ukraine führte einen verdeckten Krieg – trotz Minsk, Waffenstillstand. Dann folgte am 24. Februar 2022 der russische Angriff, wie er allgemein, in Teilen bekannt ist. Dieser Angriff kam nicht aus heiterem Himmel. Seit Monaten war den USA bekannt, dass Russland vorbereitete, 200.000 Truppen in Marsch zu setzen; seit Oktober 2021 waren intern die Routen der Aufmarschpläne und Städte bekannt, die besetzt werden sollten. (Gelang die CIA mit Spion oder elektronisch in innere Zirkel des Kremls? – Bob Woodward). Es gab sogar politische Kontakte, um den Russen zu erklären, die USA würden einen Angriff nicht hinnehmen, sie würden aktiv reagieren.

Der Angriff russischer Truppen 2022 bedrohte Existenz und Souveränität des Staates. Hilfe und Unterstützung zum Überleben war notwendig, gerade weil in Kiew die historische Aufgabe verfolgt wurde, demokratische Rechte und Freiheiten in der Ukraine zu verwirklichen. Dieser Weg nach Westen bewegte die Mehrheit des Landes als politisches Ziel seit hundert Jahren, in den letzten Jahrzehnten war es gleichbedeutend mit dem Weg nach Europa, wenn „Europa“ exemplarisch für demokratische Freiheit stehen kann. Eine sofortige Unterstützung aus dem Westen zur Abwehr des Angriffs und zum Überleben war unabdingbar; aber ein dauerhaftes Ausbluten und landesweites Zerstören in einem dauerhaften Krieg kann nicht das Ziel solcher Hilfe sein, sondern die Vernunft muss das Ausbremsen eines unbegrenzten Krieges gebieten – was mit allen Kräften anzustreben ist, um die Substanz der Ukraine zu bewahren. 

Das schien fast erreicht; denn eine großflächigen Zerstörung der Infrastruktur und der Wohngebiete hätte die Diplomatie im März und April 2022 im Istanbuler Kommuniqué beinah noch verhindern können; die Zustimmung aus Kiew und Moskau lag bereits vor: Neutralität der Ukraine, Option der Provinzen, zu Russland zu gehören, Rückgabe der anderen eroberten Gebiete an die Ukraine. Scholz und Macron unterstützten diese Friedensinitiative; doch der 9. April 2022 wurde zum Wendepunkt: Die USA intervenierten, da reiste Premier Johnson aus London an; er ließ den Friedensvertrag scheitern; Selenskiyj zog seine Zustimmung zurück. Ohne große Interpretation das Fazit: Die USA verhinderten das Kriegsende. Ebenso scheiterte eine brasilianische und chinesische Mission im September 2022.

Dieser Krieg begann mit 200.000 russischen Soldaten; mittlerweile sind es wohl 640.000. Eine Art Stellungskrieg ist entbrannt, obwohl es sich nicht um feste Frontkämpfe handelt; die ukrainischen Soldaten sind technisch zurück, Beispiel Leopard-Panzer, Verluste in einer Woche, dito F-16. Seit Mai 2024 neue Strategie-Phase: Drohnen, Fernbomben gegen Infrastruktur, Industrie, Wohnkomplexe: Turtle-Tanks, Mini-Drohnen, langfristiger Abnutzungskrieg.  Zweieinhalb Jahre Krieg: Verheerungen, Verwüstungen des Landes, Leid in der Ukraine und im Dombass; Verletzte, Verkrüppelte und Tote unter den Soldaten aller Seiten. Unermessliches Elend allenthalben, Flucht nach Osten und Westen, Verluste und Vernichtung. Eine endlose Summe, abstrakt. Was aber bleibt da für Hoffnung auf Sieg oder Freiheit für diese kleine Ukraine?

Welche Lösung zum Frieden?

Es gab einige diplomatische Aktivitäten, mehr als hier angeführt, um diesem unseligen, erfolglosen – was nur könnte ein Sieg bringen? – zermürbenden Vernichtungskrieg Einhalt zu gebieten; ein erstes Ziel ist Waffenstillstand. Die hoch emotionalisierten Feindbilder machen eine rationale Klärung und jedes Bemühen um Frieden sehr schwer, beinah unmöglich. Es geht, in der Analyse von Jürgen Habermas, um „Verhandlungen, die verhindern, dass ein langer Krieg noch mehr Menschenleben und Zerstörungen fordert“. Weise Worte...

Ein Hinweis zu dieser Richtung aus persönlichem Leiden, nicht unbedingt Hoffnung gebend, aber eine Chance, eher eine Notwendigkeit zu jeder Friedenslösung, findet sich im Leben von Martin Niemöller. Seine Lehre aus Krieg und Diktatur führte zu der klaren Aussage: „Frieden machen“. Das erklärte er so: „Mir war im KZ aufgegangen, dass Gott ja nicht bloß für mich, den Häftling“, da ist, sondern auch für den SS-Wärter gegenüber. Daraus folgte sein Erkenntnis: „Frieden machen heißt auch immer: Sich mit seinem Gegner verständigen wollen.“ Auch Dietrich Bonhoeffer fand seinen Weg zur friedensethischen Entschiedenheit, als er, im Jahr 1932 schon, nach dem rassistischen Erleben in den USA, die quasi militärischen SA-Aufmärsche sowie die radikalen rechten Parolen wahr nahm; seine Einsichten in die anstehende Rüstung und drohende Kriegsgefahr brachten ihn zu der Erkenntnis: „Pacem facere zur Überwindung des Krieges“. Frieden machen, für den Frieden eintreten. Dieses Fundament, ernsthaft „für Frieden“ arbeiten und sich ganz einsetzen: Frieden stiften, verband beide.

Nach meinem Verständnis liegt das Grundproblem einer Lösung im Krieg in der für die USA prestigeträchtigen Ausweitung der NATO. Ihr Erfolg wirkt wie eine Degradierung Russlands. Um diesen Kernpunkt dreht sich alles, wie auch Experten wie Funke, Brandt, Teltschik und Kujat feststellten: „Der Krieg hätte verhindert werden können, hätte der Westen einen neutralen Status der Ukraine akzeptiert, (…) auf die NATO-Mitgliedschaft verzichtet und das Minsk-Abkommen… durchgesetzt“. Es sei nun die Aufgabe des „`kollektiven Westens´ und insbesondere der USA, den Kurs in Richtung Waffenstillstand und Friedensverhandlungen zu setzen.“

Der gordische Knoten einer Friedenslösung findet sich in der Verständigung über die unabdingbaren Interessen Russlands und der USA. Wenn in amerikanischen Worten, die NATO, oder in russischen Worten, die Neutralität, der zentrale kontroverse Brennpunkt der Auseinandersetzung um die Ukraine ist, erscheint das andere Problem geradezu harmlos, dass die russische Ukraine, der Dombass, eine Zuordnung zu Russland findet. Dazu stellte Günter Verheugen unmissverständlich klar: „Ob es zu einem Waffenstillstand… kommt, wird in Washington entschieden und nirgend sonst.“ Das ist nicht ganz von der Hand zu weisen.

Die letzte Chance, das Elend zu beenden und die USA wie Russland ihr Gesicht wahren zu lassen, wäre so etwas wie ein „eingefrorener Konflikt“ am grünen Tisch mit einer Grenzziehung entsprechend dem Frontverlauf, noch mit leichten Korrekturen in der Festlegung der militärischen Zonen; das Modell, ähnlich der Teilung des Landes in Korea oder auf Zypern: Eine Art strategischer Pragmatismus mit internationalen Garantien. Ein Schweigen der Waffen in Frieden wäre gefunden, die Friedensregelung wäre vertagt und auf eine ferne diplomatische Zukunft verschoben.

Stuttgart, November 2024

Dr. Detlef Bald, Endorfer Str. 12, 83083 Söllhuben – Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!              .