Wer ist Jesus Christus für uns heute? - Dietrich Bonhoeffers Impulse für ein widerständiges Gottvertrauen in den Krisen unserer Zeit; Vortrag von Anne und Nikolaus Schneider

Der Vortrag wurde vom Ehepaar Anne und Nikolaus Schneider (ehemaliger Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland) am Dienstag, dem 23. Mai 2023, 18.00 Uhr in der Evangelischen Kirche Bad Kleinkirchheim gehalten.

Musikalisch begleitet wurde der Vortrag von Peter Zeiner an der Orgel.

Vorbemerkungen: Wer ist Dietrich Bonhoeffer für uns heute?

Hauptteil: Drei Impulse Dietrich Bonhoeffers für ein widerständiges Gottvertrauen:

  1. Der erste Impuls
    Die Frage: Wer ist Christus für uns heute?
  2. Der zweite Impuls
    Die Zumutung: Vor und mit Gott leben wir ohne Gott.
  3. Der dritte Impuls
    Ein für uns unverzichtbarer Antwortimpuls auf die Frage „Wer ist Christus für uns heute?“ ist der Zuspruch:
    Wunderbar geborgen erwarten wir getrost, was kommen mag.

Vorbemerkungen: Wer ist Dietrich Bonhoeffer für uns heute?

Nikolaus: Das Fragen nach Gott, nach einem angemessenen Reden von Gott und nach einem widerständigen Gottvertrauen hat mich ein Leben lang begleitet. In unterschiedlicher Intensität und mit unterschiedlichen Akzentsetzungen. Theologisch-theoretisch, aber auch persönlich und konkret. Zunehmend fokuszierte ich mich dabei auf die Frage:

Wie können wir Menschen und wie kann ich in den immer neuen Krisen des Lebens und der Welt auf Gottes Lebensmacht und Liebe vertrauen?

Angesichts der Vielzahl und der Vielfältigkeit von Krisen lässt sich diese Frage nicht abstrakt, nicht einer oder eine für alle und auch nicht ein für alle Mal beantworten. Denn jede lebensdienliche Rede von Gott und jedes widerständige Gottvertrauen muss konkrete Lebenserfahrungen verarbeiten. Und kann dabei auch konkrete Ängste, Zweifel, Verzweiflung, Trauer und enttäuschte Hoffnungen nicht aussparen.

Mein Fragen nach Gott, nach einem angemessenen Reden von Gott und nach einem widerständigen Gottvertrauen sucht deshalb nicht nach überall und allzeit wahren dogmatischen Antworten. Sondern nach Antwortimpulsen, die unser Glauben, Lieben und Hoffen stärken – in und angesichts der Krisen in unserem persönlichen Leben und in der Welt.

Anne: Gottvertrauen ist keine Versicherung gegen die Krisen unseres Lebens und unserer Zeit – so sehr wir uns das auch oft wünschten. Krisen haben Nikolaus und mein Leben geprägt und begleitet – in unserem ‚kleinen‘ privaten Leben wie auch in den ‚großen‘ gesellschaftlichen und weltpolitischen Bezügen. Diese Krisen haben unser Denken und Fühlen oft verunsichert und unser konkretes Gottvertrauen immer neu angefochten. Vor achtzehn Jahren starb Meike, unsere jüngste Tochter, an Leukämie. Seit mehreren Jahren leben Nikolaus und ich mit einer Krebserkrankung. In den letzten Jahren und Monaten erleben und erleiden wir verstärkt, dass lebensbedrohende Krankheiten, Abschiede und Beerdigungen von Freunden und Weggefährtinnen eine Begleitmelodie unseres fortgeschrittenen Alters sind.

Und nicht zuletzt verunsichern und erschrecken uns jeden Tag neu Bilder und Nachrichten von Naturkatastrophen und Kriegen, von Unrecht, Missbrauch und Gewalt, von Flüchtlingselend, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus, von unfähigen und verantwortungslosen Politikerinnen und Politikern…

Es lässt sich nicht leugnen:
Krisen prägen und begleiten unser Leben – in unserem ‚kleinen‘ privaten Leben wie auch in den ‚großen‘ gesellschaftlichen und weltpolitischen Bezügen. Damit uns ein widerständiges Gottvertrauen als dominierende Lebens- und Glaubenshaltung möglich blieb und bleibt, brauchen wir Kraft- und Inspirationsquellen, die uns vor lähmenden Ängsten, Realitätsflucht, Resignation und Zynismus bewahren.

Nikolaus: Warum wurde in all unseren Krisen unser Grundvertrauen in Gottes Lebensmacht und Liebe nicht zerstört? Warum halten wir ‚trotz alledem‘ an unserem Gottvertrauen fest – trotz vieler enttäuschter Hoffnungen, trotz unerhörter Gebete, trotz immer neuer bedrückender Ängste und trotz all dem Leiden an der Vergeblichkeit so vieler menschlicher Bemühungen?

Wie schon erwähnt haben und suchen wir keine eindeutigen und allgemeingültigen Antworten haben auf diese Frage. Nicht für uns selbst und vor allem nicht für andere Menschen. Deshalb geht es uns – auch in diesem Vortrag – um Antwort-Impulse. Um Antwort-Impulse für Ihr je persönliches und konkretes Fragen nach einem ‚widerständigen Gottvertrauen in den Krisen unserer Zeit‘.

Anne: Widerständiges Gottvertrauen gründet für uns in der Gewissheit:
Wir Menschen können uns in Gottes Lebensmacht und Liebe bergen, was immer wir tun und lassen, was immer wir erdulden und erleiden.
Diese Gewissheit aber wird uns in Krisenzeiten immer neu angefochten. Weil die Realität und unsere konkreten Lebenserfahrungen die Liebe und Lebensmacht Gottes immer neu zu falsifizieren scheinen. Unverzichtbare Kraft- und Inspirationsquellen in diesem Dilemma sind uns dann oft Texte – biblische Texte und auch alte und neue Texte von Theologinnen und Theologen.
So auch Texte von Dietrich Bonhoeffer. Um seine Impulse für ein widerständiges Gottvertrauen geht es uns heute in unserem Vortrag.

Wer ist Dietrich Bonhoeffer für uns heute?

Mit Dietrich Bonhoeffer geht es uns so, wie es der katholische Theologe Klaus Pfeffer – er ist Generalvikar im Bistum Essen – für sich in seinem Buch „Christsein ist keine einfache Angelegenheit“ beschrieben hat. Klaus Pfeffer schreibt:

„Entscheidend war für mich die Tatsache, dass Bonhoeffer die widersprüchlichen und schwierigen Erfahrungen des Lebens nicht verschweigt. … Dietrich Bonhoeffer ist für mich … zu einem Weggefährten geworden. Immer wieder greife ich zu seinen Texten und finde Anregungen für mein eigenes Leben und Denken. … Seine Lebensgeschichte tröstet, ermutigt und provoziert mich – je nachdem, in welcher Situation ich mich selbst gerade befinde. Und seine immer noch aktuelle und durchaus provozierende Theologie regt mich für mein eigenes theologisches Denken ungemein an.“ (Klaus Pfeffer, Christsein ist keine einfache Angelegenheit. Mit Dietrich Bonhoeffer auf dem Weg zu einer erneuerten Kirche, Verlag adson fecit Essen 2017, S. 13ff)

Texte von Dietrich Bonhoeffer haben auch Nikolaus und mich begleitet, als wir uns unserer bislang tiefsten persönlichen Krise stellen mussten: der Sterbebegleitung unserer Tochter Meike. Als Meikes Lebenshorizont sich immer weiter verengte, als Meike sich gefangen und ausgeliefert fühlte an ihr Krankenhausbett, an Infusionsschläuche, an Schmerzen und Todes-Ängste:

Da waren es Bonhoeffers Texte aus „Widerstand und Ergebung“, nach denen Meike verlangte. Vor allem Bonhoeffer-Texte aus der zweiten Jahreshälfte 1944. Also aus der Zeit, als Bonhoeffers Hoffnung auf einen gelingenden Umsturz, auf Befreiung aus dem Gefängnis und auf ein gemeinsames Leben mit Maria schwanden.

Nikolaus: Auch mir ist Dietrich Bonhoeffer zu einem theologischen „Weggefährten“ geworden. Bei meinem existentiellen Fragen nach einem widerständigen Gottvertrauen in Krisenzeiten. Aber auch bei meinem theologischtheoretischen Fragen nach Gott und einer heute angemessenen Rede von Gott.

Bernd Vogel (Gemeindepfarrer, ein Vorsitzender des Dietrich-Bonhoeffer-Vereins und Mitglied der Internationalen Bonhoeffergesellschaft) schreibt in seinem 2020 erschienenen Bonhoeffer-Buch:
„Wer Bonhoeffer liest, wird sich wundern, wie „aktuell“ er damals war und heute wieder ist. Bonhoeffer … hält daran fest, dass die „Wahrheit“ der Bibel göttlichen Ursprungs und göttlichen Wesens sein muss und zugleich ein Text ist, den Menschen geschrieben haben und den Menschen lesen, gänzlich ohne alle kirchlich-theologische Sicherungen und Vorbehalte. Aber wie geht das beides zusammen? Wie wirkt Gott in der Weltwirklichkeit? Wie kommt Gott in der Welt zu seiner Wirklichkeit? Das ist die Bonhoeffer-Frage.“ (B. Vogel, „Alle Angst vor der Zukunft überwunden …“ Mit Dietrich Bonhoeffer im Gespräch, Verlag Kohlhammer Stuttgart 2020, S. 7 und S. 12)

Wie wirkt Gott in der Weltwirklichkeit?
Wie kommt Gott in der Welt zu seiner Wirklichkeit?

Das war nicht nur ‚die Bonhoeffer-Frage‘ in der großen Krise seiner Zeit: dem verbrecherischen Regime des Nationalsozialismus. Sondern: Das ist ganz aktuell auch unsere theologische Frage in den Krisen unserer Zeit.

Welche Bedeutung kann Bonhoeffer heute für dieses theologische Fragen und Denken haben?

Bernd Vogel gibt in seinem Buch darauf eine pointierte Antwort. Diese Antwort haben Anne und ich uns für diesen Vortrag zu eigen gemacht. Bernd Vogel schreibt:

Bonhoeffer „dachte beziehungsreich und veränderlich. Veränderte Situationen und Lebensumstände verlangten nach erneuter Reflexion. Einmal Gedachtes für alle Zeiten zu fixieren, hielt er für dem Leben und der Wirklichkeit gegenüber unangemessen und Gott gegenüber ungehorsam. … Bonhoeffers Denken ist nicht wegen des gewaltsamen Abbruchs seines Lebens, sondern prinzipiell fragmentarisch und kreativ. Das Unfertige und der immer neue Anfang gehören zu seiner Person und zu seiner Theologie. Darum reizt sein Lebenswerk zu einem Gespräch, das nicht in „pro“ und „kontra“ auseinanderfällt, sondern verschiedene Aspekte derselben Sache offenlegt. …
In Bonhoeffers Lebenswerk sind Person, Leben, Handeln, Glaube und theologisches Denken zu unterscheiden, aber nicht zu trennen.“ (Bernd Vogel, a.a.O., S. 27f)

An unserer Faszination von Bonhoeffers fragmentarischem und kreativem theologischem Denken wollen Anne und ich Sie im Folgenden ein Stück weit teilhaben lassen. Mit drei Impulsen Dietrich Bonhoeffers für ein widerständiges Gottvertrauen akzentuieren und verdeutlichen wir unsere Antwort auf die Titel-Frage des Vortrags:

Wer ist Jesus Christus für uns heute?

Hauptteil:

Drei Impulse Dietrich Bonhoeffers für ein widerständiges Gottvertrauen:

- Der erste Impuls: Wer ist Christus für uns heute?

Anne: Dietrich Bonhoeffer „dachte beziehungsreich und veränderlich. Veränderte Situationen und Lebensumstände verlangten nach erneuter Reflexion. Einmal Gedachtes für alle Zeiten zu fixieren, hielt er für dem Leben und der Wirklichkeit gegenüber unangemessen und Gott gegenüber ungehorsam.“

Diese Einsicht Bernd Vogels in Bonhoeffers Denk- und Glaubenshaltung – Nikolaus hat sie gerade im Vorwort zitiert – beschreibt den Kern meiner Bonhoeffer-Faszination. Denn mein Gottvertrauen muss sich gerade in Krisenzeiten immer neu aufbrechenden Glaubens-Fragen stellen. Es verlangt dann nach konkreter und erneuter Reflexion theologischer Gewissheiten. Und kann seine Kraft nur unzureichend aus tradierten theologischen Antworten beziehen. Das gilt zunehmend auch für Bonhoeffers Gottvertrauen in seiner Gefängniszeit.

Aber bereits vor seiner Verhaftung (am 5. April 1943 wurde Bonhoeffer im Haus seiner Eltern festgenommen und im Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis Tegel inhaftiert) schrieb Bonhoeffer am 25. Juni 1942 an seinen Freund Eberhard Bethge:

„Meine in letzter Zeit doch stark auf dem weltlichen Sektor liegende Tätigkeit (Bonhoeffer engagierte sich zunehmend im konspirativen Widerstand gegen Hitler) gibt immer wieder zu denken. Ich wundere mich, dass ich tagelang ohne die Bibel lebe und leben kann … Aber ich spüre, wie in mir der Widerstand gegen alles „Religiöse“ wächst. … Ich bin keine religiöse Natur. Aber an Gott, an Christus muss ich immerfort denken, an Echtheit, an Leben, an Freiheit und Barmherzigkeit liegt mir sehr viel.
Nur sind mir die religiösen Einkleidungen so unbehaglich. Verstehst Du? Das sind alles gar keine neuen Gedanken und Einsichten, aber da ich glaube, dass mir hier und jetzt ein Knoten platzen soll, lasse ich den Dingen ihren Lauf und setze mich nicht zur Wehr. …“ (Christian Gremmels u. Wolfgang Huber (Hg), Dietrich Bonhoeffer Auswahl Band 4 Konspiration, Gütersloher Verlagshaus 2006, S. 45f)

Ich bin für mein heutiges Fragen nach einem widerständigen Gottvertrauen in unseren Krisenzeiten froh, dass Dietrich Bonhoeffer damals seinem Unbehagen an den religiösen Einkleidungen des Christentums ‚Lauf gelassen‘ hat. Nicht zuletzt deshalb, weil auch ich an so manchen religiösen Einkleidungen des Christentums ein zunehmendes Unbehagen entwickle …

Nikolaus: Bonhoeffers „Unbehagen an den religiösen Einkleidungen des Christentums“ hat sich dann im Frühjahr 1944 zu der Frage verdichten, die Anne und ich als den ersten und grundlegenden Impuls für ein widerständiges Gottvertrauen in den Krisen unserer Zeit verstehen. Am 30. April 1944 schreibt Dietrich Bonhoeffer aus dem Gefängnis an Eberhard Bethge:

„Was mich unablässig bewegt, ist die Frage, was das Christentum oder auch wer Christus heute für uns eigentlich ist. Die Zeit, in der man das den Menschen durch Worte – seien es theologische oder fromme Worte – sagen könnte, ist vorüber; ebenso die Zeit der Innerlichkeit und des Gewissens, und d. h. eben die Zeit der Religion überhaupt. … Wie sprechen … wir „weltlich“ von „Gott“, wie sind wir „religionslos-weltlich“ Christen, wie sind wir ek-lesia, Heraus-Gerufene, ohne uns religiös als Bevorzugte zu verstehen, sondern vielmehr als ganz zur Welt Gehörige?
Christus ist dann nicht mehr Gegenstand der Religion, sondern etwas ganz anderes, wirklich Herr der Welt.“ (D. Bonhoeffer, in Widerstand und Ergebung, Gütersloh 1998, S. 402ff)

Für Bernd Vogel markiert dieser Brief Bonhoeffers „den Auftakt zu seinem (also Bonhoeffers!) neuen theologischen Aufbruch“ (Bernd Vogel, a.a.O., S. 42). Zu einem neuen theologischen Aufbruch, der sich auf das damals diskutierte ‚religiöse Apriori‘ des Menschen bezieht. Also auf die Vermutung, jeder Mensch sei von Natur aus – bzw. aufgrund des göttlichen Schöpfungshandelns – religiös veranlagt.

So schreibt Bonhoeffer in dem oben zitierten Brief: „Unsere gesamte 1900jährige christliche Verkündigung und Theologie aber baut auf dem „religiösen Apriori“ der Menschen auf. „Christentum“ ist immer eine Form (vielleicht die wahre Form) der „Religion“ gewesen. Wenn nun aber eines Tages deutlich wird, dass dieses „Apriori“ gar nicht existiert, sondern dass es eine geschichtlich bedingte und vergängliche Ausdrucksform des Menschen gewesen ist, wenn also die Menschen wirklich radikal religionslos werden – und ich glaube, dass das mehr oder weniger bereits der Fall ist … – was bedeutet das dann für das „Christentum“? Unserem ganzen bisherigen „Christentum“ wird das Fundament entzogen …“ (D. Bonhoeffer am 30. April 1944, a.a.O., S.403)

Dietrich Bonhoeffer will die theologische Religionskritik Karl Barths radikal weiterdenken. Ihm geht es nicht um eine wissenschaftlich tragfähige Definition des Begriffes „Religion“. Und er müht sich nicht um einen neuen Begriff von Religion, der auf ein Christentum in einer ‚mündig gewordenen Welt‘ passen könnte. Dietrich Bonhoeffer will jetzt eine radikale Trennung von „weltlich“ auf der einen Seite und „religiös“ auf der anderen Seite.
Denn:
„Christus“ war für Bonhoeffer in seinem „Heute“ im April 1944 im Tegeler Gefängnis „der Mensch Jesus“. Für Bonhoeffer lebte und litt Jesus Christus als ‚nicht-religiöser Mensch‘ inmitten einer heillosen Welt. So wie Bonhoeffer jetzt inmitten der Heillosigkeit seiner Welt lebt und leidet.
Bonhoeffer erfährt in der Nacht vom 20. auf den 21. Juli durch ihm vertraute Gefängniswärter vom Scheitern des Umsturzversuches gegen Hitler. Und er schreibt dann am 21. Juli an seinen Freund Eberhard Bethge:

„Ich habe in den letzten Jahren mehr und mehr die tiefe Diesseitigkeit des Christentums kennen und verstehen gelernt; nicht ein Homo religiosus, sondern ein Mensch schlechthin ist der Christ, wie Jesus … Mensch war. … Wenn man völlig darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen – sei es einen Heiligen oder einen bekehrten Sünder oder einen Kirchenmann, … dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern das Leiden Gottes in der Welt ernst, dann wacht man mit Christus in Gethsemane, … und so wird man ein Mensch, ein Christ.“ (D. Bonhoeffer am 21. Juli 1944, a.a.O., S.541f)

Um die Mensch-Werdung Gottes, um das Mensch-Sein Jesu Christi und um die Mensch-Werdung von Christinnen und Christen ging es Dietrich Bonhoeffer mit seiner radikalen Abkehr von einer ‚religiösen‘ Theologie.

  • Darum ging es ihm mit seiner großen Frage „Wer ist Christus für uns heute?“. Und mit den daraus folgenden Fragen:
    Wie sprechen wir „weltlich“ von „Gott“?
  • Wie sind wir „religionslos-weltlich“ Christen?
  • Wie sind wir ek-lesia, Heraus-Gerufene, ohne uns religiös als Bevorzugte zu verstehen, sondern vielmehr als ganz zur Welt Gehörige? 

In seinem Bonhoeffer-Porträt schreibt Wolfgang Huber dazu:

„Im inneren und äußeren Abstand, den die Gefängnismauern schufen, wuchs offenkundig Bonhoeffers Enttäuschung über die um sich selbst kreisende Bekennende Kirche – von der Kirche der Deutschen Christen ganz zu schweigen. Der Verweis auf die Zeitumstände reichte zur Erklärung dieses Versagens nicht aus. Bonhoeffer sah sich unausweichlich vor die Frage gestellt, ob die Form, in der die Kirche Christus verkündigt und lebt, noch aufrichtig ist und Menschen erreichen kann. Er hielt es für notwendig, zwischen Christentum und Religion grundsätzlich zu unterscheiden. Dieser Unterscheidungsversuch führte ihn zu radikalen Überlegungen, weil er ihn mit der Diagnose einer religionslos werdenden Welt verband; daraus leitete er die Aufgabe einer nichtreligiösen Interpretation des christlichen Glaubens ab. …
Bis zum heutigen Tag geht von der Radikalität seiner Erwägungen eine eigentümliche Faszination aus.“
(W. Huber, Dietrich Bonhoeffer auf dem Weg zur Freiheit. Ein Porträt, Verlag C.H.Beck München 2019, S. 234)

Anne: Unserem Christentum das tradierte Gewand einer Religion aus einer patriarchalen und unmündigen Welt ausziehen und damit dann erreichen: Christus ist für uns nicht mehr Gegenstand einer solchen Religion, sondern etwas ganz anderes, wirklich Herr der Welt. Dieses von Bonhoeffer inspirierte radikale Ansinnen und die darin verankerte Hoffnung üben auch auf mich „eine eigentümliche Faszination aus“. Gerade im Blick auf die große Kirchen-Krise unserer Zeit.

In Deutschland schrumpft die Institution Kirche – die evangelische wie die katholische. Nach Prognosen des Freiburger Finanz- und Politikwissenschaftlers Bernd Rüffelhüschen wird schon im Jahr 2060 nur noch ein Drittel der Deutschen der katholischen oder der evangelischen Kirche angehören. Die Mitgliedszahlen beider Großkirchen werden sich halbieren. Als Ursache dieser prognostizierten Kirchenschrumpfung wird nicht allein der demographische Wandel identifiziert. Ursache ist offensichtlich auch die schwindende Bindekraft der Kirchen – anders ausgedrückt: der Relevanzverlust der Kirchen. Kirchen werden in Deutschland nicht mehr als heilsnotwendige und leider auch nicht mehr als lebenswichtige und lebensfördernde Institutionen in unserer Gesellschaft wahrgenommen.
Menschen verlassen in Scharen unsere institutionellen Kirchen …
Und auch Menschen, die in ihren Kirchen bleiben, fragen:
Können wir mit den „religiösen“ Bildern und theologischen Redeweisen der Bibel und der Kirchen heute noch glauben, ohne unseren Verstand auszuschalten? Ohne unsere menschliche Weltverantwortung abzuwerten? Ohne uns in eine Realitäts-verdrängende Innerlichkeit zu flüchten? Auch ich frage mich das – zunehmend auch in den Krisen meines Lebens und angesichts der Krisen unserer Welt.
Ich kann und will die Frage „Wer ist Christus für mich heute“ beispielsweise nicht mehr mit dem „religiösen Gewand“ des Heidelberger Katechismus beantworten. Im Heidelberger Katechismus Frage 1 heißt es:

„Jesus Christus hat mit seinem teuren Blut
für alle meine Sünden vollkommen bezahlt
und mich aus aller Gewalt des Teufels erlöst;
und er bewahrt mich so,
dass ohne den Willen meines Vaters im Himmel
kein Haar von meinem Haupt kann fallen,
ja, dass mir alles zu meiner Seligkeit dienen muss.“

Mir scheint:
Mit einem solchen religiösen Gewand unseres Christus-Glaubens können Kirchen den Menschen heute nicht (mehr?) vermitteln, dass „Jesus Christus uns Trost im Leben und im Sterben ist.“

Auch ohne Dietrich Bonhoeffer zu kennen und ohne auf seine nun fast 80- jährige Zeitansage Bezug zu nehmen, machen Menschen mit ihren Kirchenaustritten heute deutlich:
Offensichtlich ist – zumindest in unserem Land – die Zeit jetzt wirklich vorüber, dass Christinnen und Christen mit ihren tradierten kirchlichen Bekenntnissen überzeugend für ein Leben in der Nachfolge Jesu und zum ‚Kirche-Sein‘ einladen. Vielleicht ist in unserer Institutionen-kritischen Gesellschaft sogar die Zeit der traditionellen Kirchen selbst vorüber?

Heribert Prantl, Autor und Kolumnist der Süddeutschen Zeitung, hat das in der Osterausgabe vom 8./9./10. April 2023 so auf den Punkt gebracht:
„Gott ist kein Auslaufmodell, und Religion ist nicht überholt. Wer Kirchenaustrittszahlen so interpretiert, der liegt falsch. Wer aus der Kirche austritt, der tut es nicht, weil er über Nacht Atheist geworden ist; er tut es, weil er in der Kirche nicht oder nicht mehr das findet, was er sucht: Schutz, Halt, Trost und Freude.
… Von einem Sog der Säkularisierung ist die Rede; er erfasst auch jene, die Mitglied der Kirche sind. Jedes vierte Kirchenmitglied hat in den vergangenen Monaten über einen Austritt nachgedacht; jedes fünfte hat eine feste Austrittsabsicht. …
Die Kirchen brauchen so etwas wie ein religiöses 1,5-Grad-Ziel. Sie brauchen eine Transformation; sie müssen sich selbst missionieren. …“

Vielleicht wäre das ja ein erster Schritt für eine Transformation und Selbstmissionierung unserer institutionellen Kirchen: Bischöfinnen, Bischöfe und Kirchenleitungen stellen sich selbstkritisch und ergebnisoffen der Frage: Wer ist Christus für uns heute?

Nikolaus: Ob innerhalb oder außerhalb einer institutionellen Kirche scheint mir Dietrich Bonhoeffers immer neues und konkretes Fragen: Wer ist Christus für uns heute? unerlässlich für ein widerständiges Gottvertrauen.

Zu Gott, der uns „Schutz, Halt, Trost und Freude“ (vgl. Heribert Prantl, Osterkolumne) ist, finden wir Menschen nicht auf von uns selbst gemachten Wegen. Auch nur sehr bedingt auf dem Weg tradierter kirchlicher Konventionen oder auf dem Weg einer widerspruchsfreien systematischen Theologie und Dogmatik. Denn auch diese Wege wären mit dem Anspruch, Gott damit zu erfassen und zu begreifen, gleichsam ein moderner Turmbau zu Babel.

Zu Gott finden können wir Menschen nur auf Gottes Wegen zu uns. Und für Christinnen und Christen heißt das: auf Gottes Weg in und mit dem Menschen Jesus Christus.

Dietrich Bonhoeffer brauchte für sein widerständiges Gottvertrauen zunehmend die ‚Konzentration der Theologie auf Jesus Christus‘.

Bernd Vogel beschreibt genau diese Konzentration als eine „Offenbarung“ Bonhoeffers an uns Nachgeborene:
„Bonhoeffer hat die von Martin Luther übernommene und durch Karl Barth zugespitzte Konzentration der Theologie auf Jesus Christus auf die Spitze getrieben und zugleich rückhaltlos geöffnet für die Fragen und die Kritik der – wie er es 1944 nannte: „religionslosen“ bzw. „mündig gewordenen“ Welt. Das, meine ich, ist der Kern seines Glaubens, seiner Theologie und vielleicht eine „Offenbarung“ im Wortsinn …“ (Bernd Vogel, a.a.O., S. 55)

Für Anne und mich ist diese Konzentration der Theo-logie und der persönlichen Gott-Suche auf den Menschen Jesus Christus der erste und grundlegende „Impuls“ Dietrich Bonhoeffers für ein widerständiges Gottvertrauen in den Krisen unserer Zeit.

- Der zweite Impuls: Die Zumutung: Vor und mit Gott leben wir ohne Gott.

Nikolaus: Ein widerständiges Gottvertrauen garantiert kein Leid-freies und kein Krisen-freies Leben. Ein Leben in der Nachfolge Jesu hieß schon für Jesu Zeitgenossen, hieß dann für Dietrich Bonhoeffer und heißt für uns heute:
Wir stellen uns der Zumutung: Vor und mit Gott leben wir ohne Gott.

Im Juni 1944 schreibt Dietrich Bonhoeffer an Eberhard Bethge:
„Und wir können nicht redlich sein, ohne zu erkennen, dass wir in der Welt leben müssen – „etsi deus non daretur“. Und eben dies erkennen wir – vor Gott! Gott selbst zwingt uns zu dieser Erkenntnis. So führt uns unser Mündigwerden zu einer wahrhaftigeren Erkenntnis unserer Lage vor Gott. Gott gibt uns zu wissen, dass wir leben müssen als solche, die mit dem Leben ohne Gott fertig werden. …
Der Gott, der uns in der Welt leben lässt ohne die Arbeitshypothese Gott, ist der Gott vor dem wir dauernd stehen. Vor und mit Gott leben wir ohne Gott.“

Und Bonhoeffer setzt seine Ausführungen dann fort mit seiner für ihn notwendigen und maßgeblichen Konzentration der Theo-logie auf Gott in dem Menschen Jesus Christus:
„Gott lässt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz. Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns. Es ist … ganz deutlich, dass Christus nicht hilft kraft seiner Allmacht, sondern kraft seiner Schwachheit, seines Leidens! Hier liegt der entscheidende Unterschied zu allen Religionen. Die Religiosität des Menschen weist ihn in seiner Not an die Macht Gottes in der Welt, Gott ist der deus ex machina. Die Bibel weist den Menschen an die Ohnmacht und das Leiden Gottes; nur der leidende Gott kann helfen. Insofern kann man sagen, dass die … Entwicklung zur Mündigkeit der Welt, durch die mit einer falschen Gottesvorstellung aufgeräumt wird, den Blick frei macht für den Gott der Bibel, der durch seine Ohnmacht in der Welt Macht und Raum gewinnt.“
(D. Bonhoeffer am 16. Juni 1944 an Eberhard Bethge, in Widerstand und Ergebung, Gütersloh 1998, S. 533ff)

Vor und mit Gott leben wir ohne Gott – was es bedeutet, sich dieser Zumutung zu stellen und dennoch am Gottvertrauen festzuhalten, das haben Anne und ich beim Sterben unserer Tochter Meike erfahren.

Anne: Meike liebte das Leben auf dieser Erde. Sie wollte ihr Leben tanzen, wollte ein Licht Gottes sein und dabei „steinalt“ werden. Meike war 22 Jahre jung, als sie und als wir den Kampf um ihr irdisches Leben verloren haben. Dass Gott Meikes und unsere Gebete um Heilung offensichtlich nicht erfüllen wollte (oder nicht konnte?), war wohl unsere größte persönliche Glaubens- und Lebenskrise.
Meike hat ihre und wir haben unsere Beziehung zu Gott in dieser Krise nicht aufgekündigt. Aber wir mussten in diesen Zeiten immer neu enttäuschter Hoffnungen immer neu um unser Gottvertrauen kämpfen.
Als klar war, dass auch die Knochenmark-Transplantation ihre Leukämiezellen nicht nachhaltig abgetötet hatte, schrieben Meike und ich einander Briefe, obwohl wir uns täglich sahen. Es war für uns leichter, unsere Enttäuschungen, Ängste und Glaubenszweifel einander schriftlich zu mitzuteilen als mündlich. Beim Miteinander-Reden konnten wir Tränen und ein verzweifeltes Weinen zu wenig zurückhalten.

Meike schrieb mir fünf Wochen vor ihrem Tod:
„Ich dachte immer, ich hätte keine Angst vor dem Tod, sondern nur vor dem Sterben – doch phasenweise gelingt es mir nicht, zuversichtlich zu bleiben, und ich weiß nicht mehr, ob ich an Gott glaube. Warum gibt er mir nicht wenigstens das Gefühl, bei ihm aufgehoben zu sein, irgendeine Sicherheit? Und doch bete und bitte ich und nehme die Augenblicke, in denen wir noch lachen und singen können, als Geschenk wahr, als Gottesgeschenk. Doch im Schmerz kann ich ihn – zumindest in den letzten Tagen – nicht finden, und das macht mich traurig und wütend. 
Ich glaube, aber ich habe gleichzeitig Zweifel an allem, was uns durch Christus gesagt wurde. Glaube kann Berge versetzen, aber Krebszellen abtöten kann er wohl nicht. …“

Ich versuchte Meike – und mich – damals mit der Erinnerung an Jesus in Gethsemane zu trösten. So wie Bonhoeffer es für sich 1944 im Gefängnis tat. Ich schrieb Meike:
„Meike, du weißt ja, dass ich mit der Christologie und Kreuzestheologie so einige Schwierigkeiten hatte und habe. Aber in meinem Gedankenwust, der in meinem Kopf kreist, gibt es zwei Stränge, die mir tröstlich und wichtig werden:

1. Auch Jesus, von dem wir sagen, dass er Gott und Mensch zugleich war, und von dem auch ich zumindest glaube, dass er in ganz besonderer Weise vom Geist und der Kraft Gottes bewegt und getragen war, auch Jesus hatte Angst vor dem Sterben und dem Tod. Er hat in Gethsemane Blut und Wasser geschwitzt und hat gebetet, Gott möge diesen Kelch an ihm vorüber gehen lassen … und Jesus hat am Kreuz geschrien: ‚Mein Gott, warum hast du mich verlassen.‘ Ostern und Auferstehung waren nicht Gottes Belohnung für Jesus, weil er so furchtlos und tapfer gestorben ist. Also, ich finde, das nimmt uns Menschen doch den Leistungsdruck etwas weg. …

2. Die Erkenntnis von Paulus, dass die Liebe größer ist als Glaube (Vertrauen in Gott) und Hoffnung (dass Gott alles gut machen wird), ist für mich in den letzten Tagen und Nächten spürbar wahr. Mein Glaube und mein Hoffen haben tiefe Risse, nicht aber meine Liebe zu Dir und zum Leben. Ich tröste mich mit dem Satz ‚Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott‘ über meine Gottesferne hinweg. … Ich glaube ganz fest, dass diese Liebe von uns zu dir und von dir zu uns, die uns im Moment tragende Form von Gottesnähe und Gottesgegenwart ist. Trotzdem bete und wünsche ich, dass du – und dass auch ich – bald auch wieder diesen Mehrwert Gottes über unsere zwischenmenschlichen Beziehungen hinaus spüren und glauben können.“

Diese zwei Gedankenstränge sind mir auch heute – 18 Jahre nach Meikes Sterben – immer noch wichtig. Heute, wo ich immer noch und immer wieder Gottes heilsames Eingreifen in Menschenschicksale und in persönliche Tragödien vermisse. Und ich vermisse Gottes heilsames Eingreifen nur zu oft auch im politischen Weltgeschehen. Immer weniger kann ich an ein direktes machtvolles Eingreifen Gottes in das irdische Leben von uns Menschen glauben. Gottes Wirkungsmacht auf dieser Erde glaube und erkenne ich zunehmend nur in nicht aufzulösenden Bindungen an das Denken, Reden und Tun von Menschen. Oder wie Bonhoeffer es auf den Punkt gebracht hat:
„Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns.“

Nikolaus: Der Journalist der Süddeutschen Zeitung Matthias Drobinski schrieb zum Reformationsfest 2017 einen Kommentar unter der Überschrift „Ach, Gott! Wo bist du?“ Darin fragte er:
„Wo ist er – Gott – wenn in Syrien Assads Fassbomben Kinder zerreißen und angebliche Gotteskrieger Menschen köpfen? Wo ist er, wenn Menschen an Hunger und Krankheit krepieren? Ist er in den Folterkellern der Welt oder bei den ersaufenden Flüchtlingen im Mittelmeer, … Ist die Rede vom Beistand (Gottes) … mehr als eine billige Lüge?“

Dobrinski plädiert in seinem Kommentar dann in einer für mich überzeugenden Weise für eine ‚existentielle Gottsuche entlang von Abgründen‘: Für eine existentielle Gottsuche entlang der Abgründe, die ‚alle Sicherheiten gefährdet, billigen Trost verbietet und alle vor den Kopf stößt, die Glaubenssicherheit wünschen‘. Die Fähigkeit und der Mut, sich den Abgründen und Krisen im Weltgeschehen und in uns selbst realistisch zu stellen, qualifizieren für mich jedes nachhaltige Dennoch-Vertrauen auf Gott.

Und hier sind mir Bonhoeffers theologische Impulse zur Ohnmacht Gottes in unserer Welt immer neu wichtig – gerade weil sie mich immer neu zum Weiterfragen und Widersprechen herausfordern.

Die niederländische Jüdin Etty Hillesum wurde 1943 im Konzentrationslager Ausschwitz-Birkenau ermordet. In einem ihrer aus dem Konzentrationslager überlieferten Gebete heißt es:
„Es sind schlimme Zeiten, mein Gott. … Ich will dir helfen, Gott, dass du mich nicht verlässt, aber ich kann mich von vornherein für nichts verbürgen. Nur dies eine wird mir immer deutlicher: dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen, und dadurch helfen wir uns letzten Endes selbst. Es ist das Einzige, auf das es ankommt: ein Stück von dir in uns selbst zu retten, Gott. Und vielleicht können wir mithelfen, dich in gequälten Herzen der anderen Menschen auferstehen zu lassen. Ja, mein Gott, an den Umständen scheinst auch du nicht viel ändern zu können, sie gehören nun mal zu diesem Leben … 
Ich werde in der nächsten Zukunft noch sehr viele Gespräche mit dir führen und dich auf diese Weise hindern, mich zu verlassen.“
(E. Hillesum, Das denkende Herz der Baracke. Die Tagebücher von Etty Hillesum 1941-1943, Hg. Jan G. Gaarlandt, Herder 1983)

Mich bewegt dieses Gebet. Und ich habe Verständnis für Etty Hillesums theologische Überzeugung, die ja auch den theologischen Impulsen Dietrich Bonhoeffers zur Ohnmacht Gottes in der Welt entspricht.

Der Jude und Philosoph Hans Jonas (1903 – 1993), dessen Mutter im Konzentrationslager Ausschwitz ermordet wurde, reflektierte in seinem Spätwerk die Theodizee-Frage nach Ausschwitz. Und er kam dabei wie Etty Hillesum und Dietrich Bonhoeffer zu der Erkenntnis:
Um überhaupt noch angemessen von Gott zu reden und auf Gott vertrauen zu können, muss die Vorstellung von der Allmacht Gottes aufgegeben werden. Gott steht zwar in Kommunikation zu seiner Schöpfung, aber er vermag auf das Weltgeschehen keinen Einfluss zu nehmen. Verantwortung für das Böse in der Welt trägt allein der Mensch. (vgl. dazu Hans Jonas, Der Gottesbegriff nach Ausschwitz. Eine jüdische Stimme, Suhrkamp Frankfurt am Main 1987)

Anders als Etty Hillesum, anders als Hans Jonas und in dieser Frage auch anders als Dietrich Bonhoeffer halte ich (bislang?) in meinem Gottvertrauen daran fest, dass alles Leid und alles Unrecht dieser Welt im Machtbereich Gottes liegen – dass Gott also wirkmächtig eingreifen könnte.

Der mir unverzichtbare Grund meines Dennoch-Vertrauens zu Gott liegt im widersprüchlichen und dialektischen Zusammenhang von Gottes grenzenloser Lebensmacht und Gottes Ohnmacht im leidenden und sterbenden Christus.

Für Bonhoeffers widerständiges Gottvertrauen im Gefängnis – und so auch für Etty Hillesum und Hans Jonas – war die Konzentration auf die theologische Einsicht maßgebend und unverzichtbar:
„Gott lässt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz. Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns. Es ist … ganz deutlich, dass Christus nicht hilft kraft seiner Allmacht, sondern kraft seiner Schwachheit, seines Leidens!“

Bliebe dieser theologische Impuls Bonhoeffers aber als allein gültige und widerspruchsfreie theologische Wahrheit stehen, dann wäre der Karfreitag der letztgültige und höchste christliche Feiertag für unser irdisches Leben. Dann hätte das Ostergeschehen keine Bedeutung für die Krisen unserer Welt. In meiner gegenwärtigen Lebenssituation aber gilt für mich: Ein widerständiges Gottvertrauen braucht den theologischen Zusammenhalt von Karfreitag und Ostern.

Ein widerständiges Gottvertrauen braucht als theologische These den Impuls der Zumutung: Vor und mit Gott leben wir ohne Gott. Es braucht dazu aber auch die theologische Antithese: Es braucht dazu auch den Impuls des Zuspruchs:
„Wunderbar geborgen erwarten wir getrost, was kommen mag.“

Darum jetzt als dritten und abschließenden Impuls, der für uns unverzichtbarer Antwortimpuls auf die Frage „Wer ist Christus für uns heute?“

- Dritter Impuls: Der Zuspruch: Wunderbar geborgen erwarten wir getrost, was kommen mag.

Anne: Auch mein Gottvertrauen braucht diesen dialektischen Zusammenhang von Gottes grenzenloser Lebensmacht und Gottes Ohnmacht in unserer Welt. Auch zu meinem Gottvertrauen gehören Unlogik und Widersprüchlichkeit, gehört die theologische Einsicht „Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr“.

„Großer Gott, wir loben dich; Herr, wir preisen deine Stärke. Vor dir neigt die Erde sich und bewundert deine Werke.“ (EG 331, 1) Dieses Lied gehört zu unseren Lieblingsliedern auf Familienfesten – trotz aller Abgründe, die unsere Glaubenswege begleitet haben und begleiten.

Und trotz aller meiner immer neuen Fragen und Zweifel an Gottes Walten auf dieser Erde halte ich an der Zusage Jesu für seine Nachfolgerinnen und Nachfolger fest:
„Ich sage aber euch, meinen Freunden: Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten und danach nichts mehr tun können. … Verkauft man nicht fünf Sperlinge für zwei Groschen? Dennoch ist vor Gott nicht einer von ihnen vergessen. Auch sind die Haare auf eurem Haupt alle gezählt. Fürchtet euch nicht! Ihr seid kostbarer als viele Sperlinge.“ (Lukas 12, 4. 6f)

In meinem oft auch widersprüchlichen Gottvertrauen trägt und inspiriert mich deshalb auch Bonhoeffers Gedicht „Von guten Mächten wunderbar geborgen“. Sein Gedicht, das er in den Vorweihnachtstagen 1944 für seine Verlobte Maria von Wedemeyer und für seine Familie schrieb. Sein Gedicht, das mir zeigt: Auch bei Dietrich Bonhoeffer sind sein persönliches Gottvertrauen und sein theologisches Nachdenken nicht immer eindeutig und nicht unbedingt logisch voneinander ableitbar.

Am 19. Dezember 1944 schrieb Dietrich Bonhoeffer aus dem Gestapo-Gefängnis an seine Braut:
Meine liebste Maria! Ich bin so froh, dass ich Dir zu Weihnachten schreiben kann und durch Dich auch die Eltern und Geschwister grüßen und Euch danken kann. Es werden sehr stille Tage in unseren Häusern sein. Aber ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, je stiller es um mich herum geworden ist, desto deutlicher habe ich die Verbindung mit Euch gespürt. …

Du darfst also nicht denken, ich sei unglücklich. Was heißt denn glücklich und unglücklich? Es hängt ja so wenig von den Umständen ab, sondern eigentlich nur von dem, was im Menschen vorgeht. Ich bin jeden Tag froh, dass ich Dich, Euch habe und das macht mich glücklich … Es sind nun fast 2 Jahre, die wir aufeinander warten, liebste Maria. Werde nicht mutlos! Ich bin froh, dass Du bei den Eltern bist. … Hier noch ein paar Verse, die mir in den letzten Abenden einfielen. Sie sind der Weihnachtsgruß für Dich und die Eltern und Geschwister.

  1. Von guten Mächten treu und still umgeben behütet und getröstet wunderbar, – so will ich diese Tage mit euch leben und mit euch gehen in ein neues Jahr;
  2. Noch will das alte unsre Herzen quälen noch drückt uns böser Tage schwere Last, Ach Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen das Heil, für das Du uns geschaffen hast.
  3. Und reichst Du uns den schweren Kelch, den bittern, des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand, so nehmen wir ihn dankbar, ohne Zittern aus Deiner guten und geliebten Hand.
  4. Doch willst Du uns noch einmal Freude schenken an dieser Welt und ihrer Sonne Glanz, dann woll’n wir des Vergangenen gedenken, und dann gehört Dir unser Leben ganz.
  5. Lass warm und hell die Kerzen heute flammen die Du in unsre Dunkelheit gebracht, führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen! Wir wissen es, Dein Licht scheint in der Nacht.
  6. Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet so lass uns hören jenen vollen Klang der Welt die unsichtbar sich um uns weitet, all deiner Kinder hohen Lobgesang.
  7. Von guten Mächten wunderbar geborgen erwarten wir getrost, was kommen mag Gott ist bei uns am Abend und am Morgen, und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

Sei mit Eltern und Geschwistern in großer Liebe und Dankbarkeit gegrüßt. Es umarmt Dich Dein Dietrich (zitiert nach: Renate Wind und Michael Kuch, Dietrich Bonhoeffer und Maria von Wedemeyer – die Geschichte einer Sehnsucht in Texten und Tönen, Gütersloher Verlagshaus 2015, S. 68f)

Nikolaus: Persönlicher Glaube und ein widerständiges Gottvertrauen sind immer mehr als abstrakte theologische Theorien und Einsichten. Deshalb müssen sie nicht immer eindeutig und nicht unbedingt logisch ableitbar und begründbar sein. Auch dann nicht, wenn wir versuchen, die uns tragenden Gottesbilder und Glaubensaussagen ‚vor dem inneren Gerichtshof der Vernunft‘ zu verantworten. Ein lebendiges und tragfähiges Gottvertrauen kann meines Erachtens nicht grundsätzlich einer zweiwertigen Logik folgen, für die es bei allen Gottesbildern und Glaubensaussagen immer und nur ein ‚wahr‘ oder ‚falsch‘ gibt.

Unser persönlicher Glaube und ein widerständiges Gottvertrauen verlangen vielmehr nach einer konkreten Ambiguitätstoleranz – uns selbst gegenüber wie auch gegenüber den für uns gegenwärtig gültigen Gottesbilder und Glaubensaussagen. Das heißt:
Wir müssen damit leben und glauben lernen, dass unser Denken, Fühlen und Hoffen sowie auch unsere Gottesbilder und Glaubensaussagen nicht eindeutig, oft vage und manchmal widersprüchlich sind.
Und dass die Wahrheitsfragen sich in unserem Glauben oft nicht logisch entscheiden lassen.

Für meine Gottesbilder gilt so auch, was Fulbert Steffensky in seiner Auslegung zum zweiten Gebot „Du sollst dir kein Gottesbild machen!“ schreibt:
„Man kann vom Glauben zwei sich widersprechende Sätze sagen. Der eine Satz: Er entwirft Bilder von Gott, weil er blind nicht leben kann. Der andere Satz: Er überholt die vorhandenen Bilder, und oft reißt er sie nieder und zerstört sie … Das Bild selber bricht das Bild und ist bildstürmerisch. … Überall, wo die Bilder und die Namen Gottes nicht mehr Sprachversuche und Annäherungen sind … sondern als endgültige Feststellungen und Klarlegungen begriffen werden, da besteht die Gefahr, einen Götzen zu haben, statt einen Gott. … Das Geheimnis Gottes ist nicht zu entziffern mit unseren Namen. … Nicht theologische Korrektheit sollte das Ziel unserer Gott-Sprache sein, sondern der Versuch, das Geheimnis zu berühren, selbst wenn man sich gelegentlich die Finger verbrennt.“ (F. Steffensky, Die Zehn Gebote, Echter Verlag GmbH 2003, S.23-26)

Dietrich Bonhoeffer hatte für sich und seine Zeit darum gerungen, ob und wie Gott und Gottes Wort in unserer säkularen Welt und Wirklichkeit mit einer ‚religionslosen‘ Sprache bezeugt werden können. Aber er hat sich in diesem Ringen nicht davor gescheut, sich in seiner persönlichen Frömmigkeit die ‚Finger zu verbrennen‘, etwa mit dem Bekenntnis:
Von guten Mächten wunderbar geborgen
erwarten wir getrost, was kommen mag
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen,
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

Anne: „Wie können wir leben und sterben in der Gewissheit: Wir sind aufgehoben und geborgen in Gottes Nähe und Liebe – angesichts all der Krisen unserer Zeit. Auch angesichts des Todes und sogar durch den Tod hindurch?“ –
das bleibt für Nikolaus und mich eine lebenslange Frage und Aufgabe im Blick auf unser widerständiges Gottvertrauen.

Dietrich Bonhoeffer blieb auch angesichts seines drohenden Todes offen für Erfahrungen von Gottes wunderbarer Nähe. Einer Gottes-Nähe, die sich ihm nicht beweisen musste durch erhörte Gebete, wunderbare Errettungen und durch ein irdisches „happy end“.

‚Gott ist und bleibt bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag‘ – das heißt für Nikolaus und mich auch:
Gott ist und bleibt bei uns auch ganz gewiss an dem neuen Tag nach unserem Todestag!
Jesus Christus war für Dietrich Bonhoeffer und ist für uns heute Inspirator und Garant für diese Gewissheit.

Und diese Gewissheit lässt uns jetzt in und mit all unseren Todeserfahrungen getrost leben und unserem eigenen Tod hoffnungsvoll entgegen gehen.

Nikolaus:
„Von guten Mächten wunderbar geborgen
erwarten wir getrost was kommen mag.“

Dieser Zuspruch war für Dietrich Bonhoeffer im Zugehen auf seinen gewaltsamen Tod ein unverzichtbarer Antwortimpuls auf seine existentielle Frage „Wer ist Christus für mich heute?“

Im Oktober 1944 war Dietrich Bonhoeffer in das berüchtigte Berliner Gestapo-Gefängnis verbracht und wochenlang in Isolationshaft gehalten worden. Sein Kontakt nach außen wurde stark eingeschränkt. Einem seiner letzten Briefe hatte er sein Gedicht „Von guten Mächten treu und still umgeben‘ beigefügt.

„Im Angesicht des Todes fand Bonhoeffer die Kraft zu derart stillen und zuversichtlichen Zeilen. Weil das möglich war, konnte sein Text eine Leuchtkraft entwickeln, die weit über den ursprünglichen Entstehungszusammenhang hinausweist und Menschen erreichen kann, denen die Geschichte des Gedichts völlig unbekannt ist. … die Worte „von guten Mächten“ zu Beginn lassen schon anklingen, was am Ende kommt und auch ans Ende gehört: die verhaltene Sprache eines Vertrauens auf Gott, eine Sprache, in der sogar der Gottesname erst ganz zum Schluss auftaucht, damit dieses Vertrauen jeden auf seine Weise erreichen kann. Dieses Vertrauen, so still und persönlich, so unsentimental und ergreifend es in diesem Gedicht formuliert wird, bildet eine Summe dessen, was man Dietrich Bonhoeffers Vermächtnis nennen kann.“ (Wolfgang Huber, a.a.O., S. 298)

So hat Wolfgang Huber im Epilog seines Bonhoeffer-Portrait dieses Gedicht beschrieben und charakterisiert. Als das „Was bleibt“, also als „Vermächtnis“ Dietrich Bonhoeffers auch für die Vertrauens- und Glaubenskrisen unserer Zeit.

Im Februar 1945 wurde Bonhoeffer in das Konzentrationslager Buchenwald verlegt. Im April dann nach Regensburg gebracht und anschließend in das Konzentrationslager Flossenbürg. Dort wurde er auf persönlichen Befehl Hitlers am 9. April 1945 erhängt. Einem Mitgefangenen trug er als Abschiedsgruß Worte an George Bell, seinen Freund, den Bischof von Chichester, auf: „Sagen Sie ihm, dass dies für mich das Ende ist, aber auch der Beginn. Mit ihm glaube ich an den Grundsatz unserer universalen christlichen Geschwisterschaft, die sich über alle nationalen Hassgefühle erhebt, und daran dass unser Sieg gewiss ist.“ (zitiert nach W. Huber, a.a.O., S. 30)

Wir sind gewiss, dass sich Dietrich Bonhoeffers Glaubensgewissheit für ihn erfüllt hat. Dass sein irdischer Tod für ihn auch der „Beginn“ seiner Existenz im Reich Gottes wurde. Ohne Frage aber wurden und werden Bonhoeffers Tod und sein theologisches Vermächtnis zu einem „Beginn“ und zu immer neuen Impulsen für das widerständige Gottvertrauen von Christenmenschen. Auch für Anne und mich. Wir hoffen, dieser Abend trägt auch für Sie ein Stück weit dazu bei.

Wir danken für Ihre Aufmerksamkeit!