Mutter und Kind

Von Mechthild Podzeit-Lütjen, Vereinsmitglied.

(Martin Walser: "Sobald ich etwas schreibe ist es nicht so schlimm, als wenn es passiert – das Schreiben ist aufregend," 24. März 2022, 95 Jahre)

(wie heisst die Grenze zwischen Tag und Nacht? mpl)

"Sinkt jeder Tag
hinab in jede Nacht,
so gibt’s einen Brunnen
der drunten die Helligkeit hält.
Man muss an den Rand
Des Brunnendunkels hocken,
entsunkenes Licht zu angeln
mit Geduld."

Pablo Neruda

schnürt’s dir die Kehle zu denkst

du wärst im Gesäuse oder du warst oder gehst dorthin – ins Gesäuse zum Talschluss – Talschluss dort braucht es kein Öl oder Mehl – weil, oder doch – auch im Gesäuse Mehl und Öl, beides, vielleicht dort keine Pandemie, aber doch durch Natur eingeschleppt, jedenfalls kein Krieg, auch in den Alpen hat es Krieg gegeben, den Juden war das Betreten verboten „Hast du meine Alpen gesehen’“ fragten sie in einer Ausstellung.

Dachtest als Nachgeborene, von was nach, von was spät, alles holt ein, über Generationen:  wir baden die Großeltern aus – die Groß-Eltern – Krieg – Pandemie – Lebensmittelpreise – jetzt haben wir den Salat – wir, die wir doch nach geboren – jetzt Krieg – wieder Krieg – nicht auf der Straße, doch am Bahnhof gestern die Gestrandeten – ich bin doch selbst eine Exilantin – werde mich damit nicht behaften – habe gespendet, der katholischen Caritas, die arbeiten bis zum Burnout – mein Leben ist ohnedies eine permanente Grenzwanderung. Wir kriegen kein Mehl mehr, kein Öl bei Metro, sagt die Gastronomin. Aber dann dieses Foto.

Die Frau unter dem nackten Himmel – auf einer Trage – eine Lazarett Trage, von 4 Männern getragen, jeder Mann einen Griff, einer die Kalaschnikow umgehängt, Lauf nach unten, daneben geht gebeugt ein junger Mann, der ein Zipfel Kleid von ihr hält, ein Träger hält den Arm der Frau mit der Rechten, als ob dieser Arm sonst abgleiten würde, die Frau hat die Linke um ihren Bauch gelegt, an dem eine große Wunde klafft. Kurz streicht sie über den Rücken des Mannes an der Seite der Trage. Bleich schon, streichelnd gleichsam. Um das Ungeborene, das wie ein Monument in der Mitte des Bildes gleichsam bereits Platz ergreift. Ihr Bein ist angewinkelt, voller Blut. Das Gesicht aschfahl, blutleer, reißt die Frau beide Hände hoch, und lässt sie fallen. Regungslos. Der Bauch in der Mitte des Bildes schreit zum Himmel. Das Ungeborene schreit zum Himmel. Dieses ganze Bild schreit zum Himmel. Sie tragen die hochschwangere Frau in den Wehen aus der bombardierten Geburtsstation durch Schlamm über Baumäste hinüber zu einem Gebäudeskelett, wo ein Schrottwagen steht. Wollen retten unter dem nackten verhangenen Himmel. Die Frau habe es nicht überlebt. Schrieben sie. Zuerst das Kind durch Kaiserschnitt entnommen, ohne Lebenszeichen. Die Mutter bemerkte es, schrie: tötet mich jetzt. Sie starben trotz Reanimation, sagt der Chirurg Timur Marin.

Sie nahm das Kind mit. Oder das Kind nahm sie mit. Vor Gottes Thron sagt man; ob sich Gott besonders über Ungeborene freut? Die Frau ist eine Heilige, sage ich. Eine Namenlose – ob Gott sich eines Tages erinnert? Ob das Kind in seiner Hand eingeschrieben steht? Das Kind am Ende der Vagina oder am Anfang, fängt nichts damit an, auch wir nicht, fangen nichts damit an – schon wieder: was ist der Mensch – warum Gott,  sind wir das Spiel deiner Krone – wie es beliebt? Wir hätten dazu gern eine Antwort –

Es sei das verkommenste, werdende Mütter ins Visier zu nehmen. Der Fotograf dieses Bildes: Evgeniy Maloletka/AP/dpa, sei hier genannt: er musste aus dem Kriegsgebiet fliehen, weil er auch für dieses Foto auf der Todesliste stand.

Der über eine Stunde reanimierende Arzt von Kind und Mutter konnte den Namen der Mutter mit ihrem Kind nicht eruieren, bis die Leichname von Mutter und Kind vom Ehemann und von ihrem Vater abgeholt wurden. So landen sie nicht im Massengrab...

©Mechthild Podzeit-Lütjen

 

Anmerkung der Redaktion:
Diese Zeilen entstanden unter dem Eindruck folgenden Zeitungsberichtes: https://www.merkur.de/politik/ukraine-krieg-foto-frau-schwanger-krankenhaus-mariupol-baby-kind-angriff-russland-invasion-91409497.html