"Denn wo zwei oder drei ...", Treffen der Wiener Gruppe, 21.09.2021

Hubertus Kosigk - Ein Schreibreflex auf den HAPAX-Lesekreis

Wir sitzen im Halbkreis
Um diesen Mann, der so entschlossen
In den Tod
Und nach eigenem Erleben
Ins Leben ging
Wo gehen wir hin?
Ihm nach?
Dem Dietrich oder Christus?
Oder beiden?

Wir kennen uns kaum, wir drei
Fremde, die sich um eine helle Kerze setzen
Und die gemeinsam lesen
In der Straßenbahn würden wir
Einander übersehen
Aber die Bücher machen es möglich
Klar, man besucht ja nun einen gemeinsamen Lesekreis
Um den Tisch herum
Bahnt sich langsam
Offenheit ihren Weg
Irgendwoher tönt ein
Fürchtet Euch nicht
Zumindest inwendig
Erschrecken wir einander nicht
Und widmen uns der Geschichte
Der beiden Liebenden
Augenscheinlich ohne Happy End
Wie bei Titanic
Jeder weiß, wie es ausgeht
Und dennoch:
Er geht ins Leben
Der Dietrich Bonhoeffer
Und wir drei glauben ihm
Jede auf ihre Art und Weise
Das ist der Klebstoff
Der uns hier auf unseren Sitzen hält
Gott klebt
Und mündet im Gebet
Zum Abend
Mit der Bitte um den Segen
Für uns drei Menschlein
Teil der großen Familie
Die sich täglich mit Alltagssorgen plagen
Und Rechnungen und unerfüllten
Ansprüchen und Wünschen
Da sind wir alle gleich
Und hier?
Hier setzen wir uns um ein Thema
Eine Seite offen nach
Der Schöpfung Michelangelos
In diesem halben Kreis
Kann viel Gutes gedeihen
Die Liebe zur Sprache
Ist von Anfang an präsent
Hier treffen sich die grundverschiedenen Seelen
Im Alphabet zwischen Österreich und Deutschland
Eine Liebe in Briefen
Das ist nicht viel mehr als ein Stapel
Papier, zum Teil verschollen, zum Teil
Gerettet, und nun als Buch in
Unseren sechs Händen
Wenn zwei oder drei in meinem
Namen versammelt sind
Dann bin ich mitten unter ihnen…
Wir sind nüchtern - protestantisch
Und doch spüren wir die rätselhafte Kraft
Die in diesen Briefen steckt
Die heiße Zuversicht ins Leben
Das unermüdliche Dennoch
Wo immer wieder Christus durchscheint
Mit seinem guten Gesicht
So groß wie die ganze Welt
Und zugleich das ärmste aller Menschenkinder
Mutterseelenallein ruft es nach seinem Papa
Am Kreuz, seine Mama hört´s aus der Ferne
Und zerbricht beinahe an dem irren Schmerz
Den die Stimme ihres Kindes in ihr wühlt
Und würgt dennoch ein müdes Gebet zum
Himmlischen Vater gen Golgatha
Gen Himmel
Bis ein tagheller Blitz
Die Sonne und den Vorhang
Vor dieser grauen Szene teilt
Im Licht des Regenbogens finden wir
Drei uns wieder in der schlichten Geborgenheit
Der evangelischen Paulus Kirche
Im dritten Bezirk
Mitten im erzkatholischen Wien
Schnuppern wir vorsichtig an den
Sätzen, die vor uns auf dem Tisch
Liegen und bleiben einen Moment
Stille - - - obwohl wir Protestanten sind

Zum Abschluss das Abendgebet
Von Dietrich Bonhoeffer
Ich danke Dir, dass Du diesen Tag zu einem guten Ende gebracht hast

Amen.