Predigt von Vikar Leonhard Jungwirth in der Pauluskirche Wien vom 5.2.2023

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Move 1:

„Lassen Sie mich durch, ich bin Arzt!“

Was wäre das nur gewesen, wenn sich Jesus, der Wundertäter aus Nazareth, im weißen Oberarztkittel seinen Weg durch die Menschenmenge gebahnt hätte?! Das Stethoskop einsatzbereit um seine Schultern gehängt. Umringt von seinen Jüngern, Assistenzärzte und Sanitäter, die die Schaulustigen zu Seite schieben und das notwendige Handwerkszeug zur Erstversorgung bereitlegen: die Infusionen, das Verbandszeug, Beatmungsschläuche, den Defibrillator. // Ein echter Notfall! Blaulicht! Sirenen! Da liegt jemand, der deine Hilfe braucht! Da liegt jemand, der auf dich angewiesen ist! Dem kannst du helfen, Jesus, dem sollst du helfen…

„Lassen Sie mich durch, ich bin Arzt!“ „Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken.“ „Schnell, eine Infusion…!“

/…/

Ja, was wäre das nur gewesen?! Was wäre das gewesen in den Augen der Schriftgelehrten, denen dieser Jesus mit seinen unkonventionellen Botschaften einfach nicht ganz geheuer war.

Nachvollziehbarer vielleicht? / Nachvollziehbarer als diese seltsame Episode, die uns heute im Predigttext aus dem Matthäusevangelium geschildert wird und die damals, als sie sich ereignet hat, die Gemüter erhitzte? Nachvollziehbarer, weil es sich um ein echtes Großereignis gehandelt hätte, um ein Ereignis, das seinem Ruf eines echten Wundertäters gerecht geworden wäre? Die Schriftgelehrten haben von den vielen Menschen gehört, die er geheilt hat. Aussätzige, die wieder gesund wurden. Menschen mit Behinderungen, denen ihre Einschränkung genommen wurde. Viele sind zu ihm geströmt, weil da auf einmal einer war, der ihnen Hoffnung aufs Gesundwerden gegeben hat. Einer, der auch denen helfen konnte, für die sonst keine Hilfe in Aussicht stand; einer, von dem man sich erzählte, dass er sogar Tote wieder lebendig machen würde. Jesus, der Arzt. Jesus von Nazareth // (… noch heute verbinden sich der Name seines Heimatorts und der Name des von ihm lebendig gemachten Lazarus in einem ganz medizinischen Sinn). /…/

Doch Jesus, der Arzt, als der er uns im heutigen Predigttext vorgestellt wird, er leitete kein Lazarett; weder blitzt das Blaulicht, noch heulen die Sirenen durch die Verse des Matthäusevangeliums. Es ist nur eine kleine Zwischengeschichte – eine fast unbedeutend erscheinende Zwischenepisode zwischen großen Heilungserzählungen. Gerade erst hat Jesus einen gelähmten Menschen wieder gehend gemacht; bald wird er eine blutflüssige Frau von ihrem langjährigen Leiden erlösen und ein für tot erklärtes Mädchen wieder mit Lebenskraft und Lebenslust erfüllen, so schildert es uns das Matthäusevangelium. Doch dazwischen, da soll sich folgendes zugetragen haben:

Move 2:

Ich lese Worte der Heiligen Schrift:

Und als Jesus von dort wegging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß Matthäus; und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm. Und es begab sich, als er zu Tisch saß im Hause, siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder und saßen zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern. Als das die Pharisäer sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern? Als das Jesus hörte, sprach er: Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken. Geht aber hin und lernt, was das heißt (Hos 6,6): »Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer.« Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder.

So weit unser heutiger Predigttext, so weit die Verse des Matthäusevangeliums.

Move 3:

Wer bin ich? // Sie sagen mir oft, ich träte aus meiner Zelle gelassen und heiter und fest wie ein Gutsherr aus seinem Schloss.

Wer bin ich? // Sie sagen mir oft, ich spräche mit meinen Bewachern frei und freundlich und klar, als hätte ich zu gebieten.

Wer bin ich? // Sie sagen mir auch, ich trüge die Tage des Unglücks gleichmütig, lächelnd und stolz, wie einer, der Siegen gewohnt ist.

Wer bin ich? // Ja, so, liebe Gemeinde, so fragte der Theologe Dietrich Bonhoeffer in den düsteren 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Aufzeichnungen aus seiner Haft sind es, Aufzeichnungen aus seiner Extremsituation, die uns seine drängenden Fragen erhalten haben. //

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?, so fragt er. Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß? Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig, ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle, hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen, dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe, zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung, umgetrieben vom Warten auf große Dinge, ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne, müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen, matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?

Wer bin ich? /…/ Der oder jener? Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer? Bin ich beides zugleich?

Wer bin ich? /…/ Einsames Fragen treibt mit mir Spott.

/…/

Move 4:

Und als Jesus von dort wegging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß Matthäus; und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm.

/…/

Was mag wohl Matthäus wohl durch den Kopf gegangen sein, als er dort am Zoll saß? // Der Bibeltext erzählt es uns nicht, mit seinen wenigen, fast flüchtigen Sätzen. // Was mag ihm, dem Zollbeamten, durch den Kopf gegangen sein, wenn ihn die einen mit verächtlichen Blicken musterten, ihn, der in der Außenwahrnehmung so Vieler für die Steuereintreibungen des römischen Systems stand; oder wenn sich die anderen ängstlich vor ihm wegduckten, weg von seinem strengen, fordernden Blick? Wenn er von den einen anerkennende Blicke erhielt, weil er seine Arbeit so gewissenhaft verrichtete; oder wenn ihn andere fast neidvoll bewunderten, in seiner privilegierten Position, als Diener des Kaiserreichs. Waren das Fremdbilder, die seinem Selbstbild entsprachen? Waren das Fremdbilder, denen er entsprechen wollte? Denen er entsprechen sollte? Welches Bild hatte er eigentlich von sich selbst? //

„Wer bin ich?“ // Ist das eine Frage, die auch ich mir manchmal stelle? Wie sehe ich mich, wie sehen mich die Menschen? Bin ich der oder jener? Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer? Bin ich beides zugleich? //

Ging es nicht auch bei Matthäus ums Durchkommen? Ums Ernähren einer Familie? Um hart oder manchmal auch weniger hart verdientes Geld? Gab es nicht auch bei ihm gute Tage und schlechte? Tage, an denen er einen arm erscheinenden Menschen durchwinkte; Tage, an denen er ohne Gnade und Erbarmen die Münzen runterzählte.

War Matthäus ein innerlich Zerrissener? Ein Suchender? Ein Sünder? Einer, in dessen Brust zwei Herzen schlugen? // Wusste er, wer er war? // Wusste er, wer er sein wollte? // „Wer bin ich?“

/…/

Move 5:

Den Oberarztmantel hat Jesus, natürlich im übertragenen Sinn, im Kasten hängen lassen. Stattdessen liegt er, der Arzt aus Nazareth, mit Zöllnern und Sündern zu Tisch. Ein Aufreger, ein Provokateur – gewiss; aber auch einer, der hinter die Fassaden blickt. Einer, der sich nicht von verzerrenden Fremdbildern und auch nicht von verzerrten Selbstbildern täuschen lässt. Einer, der sich vom bedeutungsschwangeren, vom schwerbelasteten Wort der Sünde nicht abschrecken lässt. Einer, der keine Gräben und Grenzen ziehen will. /…/

„Als Jesus von dort wegging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen…“ – so heißt es in unserem Predigttext. Und damit ist alles gesagt. Keinen Zöllner, keinen Systemling, keinen Geldausquetscher, keinen ehrbaren Diener des Kaisers. „Einen Menschen“ sah er. Einen Menschen, der mit all seinen Fragen und in all seiner Fraglichkeit, ja, der von Jesus als Ganzes in den Blick genommen wird. Einen Menschen, der es wert ist, trotz seiner Widersprüchlichkeiten als Ganzer angesehen zu werden, und der auch in dem, was ihn von Gott trennt, in seinem Sündig-Sein, sein Ansehen, sein Angesehenwerden vor Gott nicht verloren hat. // „Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder“, erklärt Jesus den Schriftgelehrten sein unkonventionelles, ja provokatives Handeln. „Ich, der ich mit Gottes Worten spreche und mit Gottes Augen auf meine Mitmenschen sehe.“ /…/

Die Sünde, die im Grunde ja nicht mehr und nicht weniger bedeutet, als das Getrenntsein von Gott, als das Getrenntsein von mir selbst und meinen Mitmenschen – sie will von Jesus überwunden werden. Jesus ruft den fragenden, den suchenden, den verzweifelten Menschen zurück in seine, in Gottes Nähe. Keine Symptombehandlung, kein heldenhafter Rettungseinsatz, sondern ganzheitliche Zuwendung. »Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer«, so zitiert Jesus aus den Schriften seiner Bibel, unserem Alten Testament. Rächäm, will ich, ja: Rächäm.

Move 6:

Rächäm, das ist das hebräische Wort für die Gebärmutter. Doch nicht nur. Rächäm bezeichnet auch das mütterliche Erbarmen, eben die Barmherzigkeit; den Schutzmantel, der sich sanft und bergend wie das mütterliche Organ um den verletzlichen Menschen legt. Dort, tief in der Gebärmutter liegt gemäß der hebräischen Sprache auch das Erbarmen. Sie nährt und versorgt uns. Sie hält uns warm. Sie lässt uns wachsen und zu unserem Menschsein finden.

Rächäm bezeichnet auch die mütterlichen Geburtswehen; die Schmerzen, die eine Mutter empfindet, wenn sich ihr Kind von ihr trennt. Aber auch das Mitleiden, die Empathie mit dem Leben des Verletzlichsten. Die Gottabgewandtheit, die Trennung von Gott schmerzt Gott genauso wie das Leiden von armen, von schwachen, von kranken, von verletzten Menschen. Beides löst bei ihm Wehen aus; beiden zeigt er sein Erbarmen.

Rächäm bezeichnet schlussendlich auch die schöpferische Kraft der Gebärmutter. Die Kraft, mit der sie unter Schmerzen neues Leben hervorbringt. Die Kraft, die wieder hoffnungsvoll nach vorne blicken lässt, die zu einem Neuanfang ermutigt, die Menschen sich selbst und andere als geliebte Kinder annehmen lässt. Die Kraft des göttlichen und auch des menschlichen Erbarmens.

„Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer.“

Jesus weiß, dass das nicht leichtfällt. Er macht sich und uns da nichts vor. Ganzheitliche Zuwendung über alle verzerrenden Fremd- und Selbstbilder hinaus. Tischgemeinschaft, ohne Barrieren. Barmherzigkeit – sie aufzubringen ist ein schmerzvoller Prozess.

//

Move 7:

„Wer bin ich?“, fragt der Mensch.

„Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!“, so spricht Bonhoeffer.

„Wer bin ich?“, fragt der Sünder.

Und Matthäus stand auf und folgte ihm.

In all den drängenden Fragen haben sie eine Antwort gefunden:

Gott hat sich ihnen bereits zugewandt. Bei ihm sind sie Mensch.

Gott hat ihnen sein Erbarmen schon gezeigt. Bei ihm sind sie angenommen.

In diesem Wissen bergen sie sich. In diesem Wissen beginnen sie jeden Tag ganz neu.

Amen.