Rundbrief 2017-02 Essay glauben zweifeln pruefen wissen

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HAPAX und ein herzliches Hallo!

500 Jahre Reformation! 2017 ist das große Jubiläumsjahr der evangelischen Kirche. Was feiern die Evangelischen eigentlich – die Bibel, Jesus Christus, die 95 Thesen, die Kirchenspaltung, Martin Luther….?

In diesem Jahr gibt es sehr viele Veranstaltungen, Vorträge, Diskussionen etc. Einen Beitrag findet Ihr unten von Ulrich Körtner, Professor für systematische Theologie und Ethik an der ev. Fakultät der Universität Wien. Er beschreibt dort auch, dass die Arbeitshypothese Gott oft nicht mehr gebraucht wird. Das hat auch Bonhoeffer in seinem Brief an Eberhard Bethge vom 16. Juli 1944 (siehe unten!) erkannt. Diese Entwicklung hat für Bonhoeffer den Weg frei gemacht zur Zurückbesinnung auf den Gott der Bibel. Und das könnte ein guter Grund sein, dies zum Reformationsfest zu feiern, nämlich den Gott der Bibel, der durch das Kreuz Jesu Christi unterstrichen hat, gerade durch seine Ohnmacht am Kreuz mit seiner Liebe zur Welt allmächtig zu sein.

 

Lesen wir bis zum nächsten Rundbrief im März 2017:

Psalmen 58 - 60; Matthäus-Evangelium Kapitel 10, die Verse 1 – 15

Beste Grüße, Euer Obmann Uwe

 

Essay: Glauben, zweifeln, prüfen, wissen, von Ulrich H. J. Körtner, in: Die Presse vom 30.12.2016

„Die Reformation war ein kirchlicher, gesellschaftlicher und geistiger Aufbruch, dessen Ausstrahlungen bis ins Heute reichen. Nur: Über ihren Einfluss auf Entstehung und Entwicklung der neuzeitlichen Wissenschaft herrschen gegenteilige Ansichten. Evangelische Kirchen und evangelische Theologie schätzen ihren Anteil herkömmlicherweise hoch ein. Eingängig ist die Formel von der Reformation als Freiheits- und Bildungsbewegung mit Philipp Melanchthon als Praeceptor Germaniae an ihrer Spitze. Gern wird auch auf die Impulse der Reformation für die Bibelexegese und damit für das Entstehen der neuzeitlichen Textwissenschaften verwiesen. Ernst Troeltsch, einer der Vordenker des modernen Kulturprotestantismus, vertrat dagegen die Ansicht, der Epochenschwelle der Aufklärung sei ein erhebliches Eigengewicht beizumessen, nicht nur auf dem Gebiet der Bibelexegese, sondern für die protestantische Theologie und ihr Verhältnis zu den modernen Wissenschaften insgesamt. Nach seinem Urteil ist ein großer Teil der Grundlagen der modernen Welt in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst völlig unabhängig vom Protestantismus entstanden. Die moderne autonome Wissenschaft sei „aus dem Protestantismus nicht geboren, sondern nur mit ihm verschmolzen und hat ihn vom ersten Augenblick dieser Verschmelzung ab in schwere Kämpfe hineingerissen“. Andere Forscher wie Wolfgang Flügel sprechen von einer anhaltenden Wechselwirkung zwischen reformatorischem Erbe und der Moderne.

Dass im Zuge der Reformation von Wittenberg aus eine grundlegende Universitätsreform eingeleitet wurde, die auf die neuzeitliche Wissenschaftsgeschichte großen Einfluss hatte, ist unbestritten. In welchem Ausmaß dies gilt, ist indes strittig. Tatsächlich führte die Reformation zu bemerkenswerten lutherischen Neugründungen von Universitäten (etwa Marburg 1527). Die jüngere Forschung gelangt jedoch zu dem Ergebnis, dass die unmittelbaren Einflüsse reformatorischer Theologie – genauer gesagt der Theologie Luthers – nicht überschätzt werden dürfen.

Der Umstand, dass die Reformation von Universitätsprofessoren vorangebracht wurde und dass die Wittenberger Universität sich zu ihrem intellektuellen Zentrum entwickelte, kann nicht hoch genug veranschlagt werden. Der Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann stellt lapidar fest: „Ohne Universität keine Reformation.“

Aber das heißt noch nicht im Umkehrschluss, dass es ohne Reformation kein modernes Universitätswesen und keine moderne Wissenschaft gäbe. Die Reform der Wittenberger Artistenfakultät griff auch Ideen des vorreformatorischen Humanismus auf. Der Wiener Bildungswissenschaftler Henning Schluß stuft die Reformation sogar anfänglich als Bildungskatastrophe ein, da sie zu Beginn „mit einer Verheerung der althergebrachten Bildungslandschaft“ einherging, und zwar nicht etwa nur als unbeabsichtigte Nebenfolge, sondern als bewusst herbeigeführtes Absterben der spätmittelalterlichen Bildungsinstitutionen. Dass Luther selbst schon Impulse für ein Bildungsverständnis gesetzt hat, das man üblicherweise erst in der Aufklärungszeit vermutet, ist die andere Seite der Medaille. Impulse der Reformation wirken dort weiter, wo aus einem reformatorischen Blickwinkel das Verhältnis von Glaube, Theologie und Wissenschaft beleuchtet wird. Nach reformatorischer Tradition ist Glauben der biblische Begriff für Gewissheit. Nun kann es ohne Gewissheit keine Form von Wissen und keine Wissenschaft geben. Unter Wissenschaft wollen wir alle Bemühungen verstehen, auf einem genau definierten methodischen Weg, über dessen Vernünftigkeit eine Verständigung im freien Diskurs erzielt wird, zu einem gesicherten, geprüften Wissen zu gelangen. Prüfung heißt so viel wie Kritik, und Kritik setzt den methodischen Zweifel voraus.

Der methodische Zweifel ist ein grundlegendes Merkmal moderner Wissenschaft. Ihre Logik der Forschung im Sinne Karl Poppers kennt keine letzte Gewissheit als Ziel, sondern ihre Wahrheitssuche bleibt ein unabgeschlossener Prozess, in dem vermeintliches Wissen und die es begründende Theorie permanent in Zweifel gezogen werden. Dennoch liegt am Grunde alles Wissens nicht der Zweifel, sondern Gewissheit, wie Ludwig Wittgenstein in seinen Vorlesungen „Über Gewissheit“ gezeigt hat. Schon das berühmte und durchaus voraussetzungsreiche „Cogito, ergo sum“ René Descartes' setzt die Gewissheit der eigenen Existenz des Zweifelnden vor jeden Zweifel. Ohne irgendwelche elementaren Gewissheiten ist auch keine moderne Wissenschaft mit ihrem Falsifikationsprinzip möglich, auch wenn diese nicht mehr, wie in der Zeit vor der Aufklärung – also auch in der altprotestantischen Orthodoxie –, metaphysischer Natur sind.

Die Gewissheit des Glaubens betrifft nicht unser Wissen über die objektiv beschreibbare Wirklichkeit, sondern die Frage nach dem Sinn, dem Grund und der Bestimmung dieser Wirklichkeit und unseres Daseins. Wir können auch sagen: Der Glaube betrifft das Gewissen, das um Schuld und Vergebung ringt. Er ist der Erlösung und bedingungslosen Annahme durch Gott gewiss. Diese Gewissheit gibt uns etwas zu wissen und zu denken. Nun gibt es verschiedene Arten des Wissens: theoretisches Wissen, technisch-praktisches Handlungswissen und religiöses Erlösungswissen.

Der Wissenschaftstheoretiker Jürgen Mittelstraß unterscheidet zwischen Verfügungswissen und Orientierungswissen. Letzteres ist auch das Wissen des christlichen Glaubens, dessen kritische Prüfung die Aufgabe der Theologie ist. Während uns Verfügungswissen eine Antwort auf die Frage gibt, was wir tun können, beantwortet Orientierungswissen die Frage, was wir können sollen und wie wir leben sollen. Das Wissen des Glaubens transzendiert diese Frage nochmals, indem es nach dem Grund unseres Daseins und unserer Lebensmöglichkeiten fragt. Das theologische Orientierungswissen gibt eine Antwort auf die Frage, worauf wir im Leben und im Sterben vertrauen und hoffen dürfen. – Kennzeichen moderner Wissenschaft ist freilich nicht nur der methodische Zweifel, sondern auch der methodische Atheismus. Nicht nur die modernen Naturwissenschaften, auch die Geschichtswissenschaft, die Kultur- und Geisteswissenschaften basieren auf der Annahme, dass sich die Welt und ihre Gesetzmäßigkeiten ohne die Arbeitshypothese Gott erklären lassen. Zwar kann es, wie gesagt, keine Wissenschaft ohne grundlegende Gewissheiten geben, aber zu diesen gehört in der Moderne eben nicht mehr die Existenz Gottes. Selbst als Erstursache aller Wirklichkeit ist Gott als Arbeitshypothese entbehrlich. Das unterscheidet die modernen Wissenschaften prinzipiell von der vorneuzeitlichen Wissenschaft, also auch von der Wissenschaft zur Zeit der Reformation und von einem reformatorisch geprägten Wissenschaftsverständnis im 16. und 17. Jahrhundert.

So ist auch die altprotestantische Orthodoxie als maßgebliche Gestalt reformatorischer Theologie in einen scharfen, obgleich aussichtslosen Konflikt mit den entstehenden modernen Naturwissenschaften geraten, und erst in der Zeit der Aufklärung wurde dieser Konflikt dadurch entschärft, dass die Theologie einen radikalen Paradigmenwechsel vollzog, indem sie sich als Theorie des religiösen Bewusstseins und nicht länger als Kosmologie oder Weltentstehungstheorie begriff.

Der methodische Atheismus, der allerdings von einem vermeintlich wissenschaftlich begründeten weltanschaulichen Atheismus zu unterscheiden ist, gehört auch zu den Voraussetzungen der modernen Theologie, soweit sie den Anspruch erhebt, im modernen Sinne eine Wissenschaft zu sein. Auch wenn im Unterschied zur Religionswissenschaft die Annahme der Existenz Gottes oder seiner Selbstoffenbarung als Voraussetzung theologischer Erkenntnis für unaufgebbar gehalten wird, unterscheiden sich doch die wissenschaftlichen Methoden, die in den historischen, systematischen und praktischen Disziplinen der Theologie zur Anwendung gelangen, nicht von denen der übrigen Wissenschaften. Mögen zum Beispiel die Bibelexegese und die Disziplin der Kirchengeschichte auch Quellen untersuchen, die Zeugnisse von Menschen sind, die leben, als ob es (einen) Gott gäbe, so erfolgt die Analyse dieser Quellen, etsi Deus non daretur. Die Überzeugung, dass Gott in Natur und Geschichte wie auch im Leben der einzelnen Menschen handelt, ist eine Überzeugung, die zwar Gegenstand kirchengeschichtlicher, praktisch-theologischer und systematisch-theologischer Forschung ist, aber die moderne Theologie lässt sie nicht als wissenschaftliche Aussage gelten.

Dass die Welt auch in theologischer Hinsicht mit wissenschaftlichen Methoden beschrieben werden kann, welche ohne die Annahme der Arbeitshypothese Gott auskommen, ist theologisch betrachtet die Folge der Verborgenheit Gottes, durch welche die Wahrnehmung der Welt als Schöpfung keineswegs zwingend ist. Gottes Verborgenheit in der Schöpfung ist jedoch nicht als Abwesenheit, sondern als Weise seiner Anwesenheit zu begreifen. Weil die Erkenntnis und Anerkennung der Weltlichkeit der Welt zu den Früchten reformatorischer Theologie zählen, kann auch die moderne Wissenschaft aus theologischer Sicht als angemessener Umgang mit der Welt als Schöpfung Gottes gewürdigt werden.

Theologie als kritische Selbstprüfung des christlichen Glaubens lässt sich im reformatorischen Sinn als soteriologische Interpretation der Wirklichkeit charakterisieren. Soteriologie ist die Lehre vom Heil. Eine soteriologische Interpretation der Wirklichkeit beschreibt dieselbe unter dem Aspekt ihrer Erlösungsbedürftigkeit. In der christlichen Theologie geschieht dies aber unter der Voraussetzung der biblisch bezeugten Erlösungs- und Heilswirklichkeit.

Die soteriologische Fragestellung ist es, welche die Theologie von allen übrigen Wissenschaften unterscheidet. Sie leitet auch zur Wissenschaftskritik an, sofern moderne Wissenschaften offen oder verborgen Heilsversprechungen machen und auf Heil als Resultat menschlicher Bemühungen zielen. Man denke nur an die Heilsversprechungen der modernen Medizin. Die kritische Funktion der Theologie gegenüber der Medizin besteht genau darin, sie von soteriologischen Ansprüchen, die zur Selbstüberschätzung und Selbstüberforderung führen, zu entlasten, damit der therapeutische Imperativ nicht zum totalitären kategorischen Imperativ mutiert. Dieser Grundgedanke lässt sich auf andere Wissenschaften wie die Physik oder die modernen Lebenswissenschaften übertragen.

Wie alle Wissenschaft partizipiert aber auch die Theologie nach reformatorischem Verständnis an der Zweideutigkeit des Zweifels, wodurch auch alles Streben nach Erkenntnis zweideutig bleibt. Diese Zweideutigkeit zeigt sich in dem ambivalenten Verhältnis von Wissen, Wissenschaft und Macht. Wir sollten nie vergessen, dass die Geschichte der christlichen Theologie über weite Strecken eine Geschichte der Gewalt ist. Eingebettet in die Kirchengeschichte, ist die Theologiegeschichte immer mit der Geschichte politischer Herrschaft verwoben gewesen. Das gilt selbstverständlich auch für das Zeitalter der Reformation und Gegenreformation. Doch selbst unter den heutigen Gegebenheiten verlangt das komplexe Verhältnis von Kirche, Macht, Öffentlichkeit und Theologie, kritisch beleuchtet zu werden.

Zu den Voraussetzungen von Wissenschaft in der Moderne gehört die Anerkennung ihrer Freiheit in Forschung und Lehre, die in modernen Demokratien gesetzlich garantiert ist. Die Freiheit der Wissenschaft musste in der abendländischen Geschichte freilich gegen klerikale Bevormundung erstritten werden. Mag die Reformation mit ihrer Forderung nach Glaubens- und Gewissensfreiheit für die Wissenschaftsfreiheit einen Impuls geliefert haben, so war doch auch in evangelischen Territorien die Wissenschaft zunächst keineswegs so frei, wie es heute selbstverständlich ist. Das gilt erst recht für die Theologie, deren Bekenntnisbindung immer wieder im Verdacht steht, im Widerspruch zur modernen Wissenschaftsfreiheit und zur Universitätsautonomie zu stehen. – Die Freiheit in Forschung und Lehre ist nach evangelischem Verständnis allerdings daran zu bemessen, wieweit sie sich am Wohl der Mitmenschen – nennen wir es biblisch: des Nächsten – orientiert. Christliche Ethik nach evangelischem Verständnis lässt sich grundsätzlich als eine vom Geist der Liebe bestimmte Form der Verantwortungsethik verstehen. Die Entwicklung und Pflege eines Ethos, auch eines Ethos der Wissenschaft, ist eine Frage der Forschungskultur und der Bildung, nämlich der Selbstbildung und Menschwerdung des Menschen, nicht etwa nur des Wissens. Sie schließt die Pflege der religiösen Dimension unseres Menschseins ein.

Sich um Bildung, nicht nur um Wissen zu bemühen, sollte zu den Tugenden aller Forschenden gehören. Wenn heute über Wissenschafts- und Forschungsethik diskutiert wird, dann nicht zuletzt deshalb, weil sich diese Tugend offenbar nicht mehr von selbst versteht. Wenn sich die Theologie in dieser Debatte zu Wort meldet, so deshalb, weil etwa die gegenwärtigen bioethischen Diskussionen zeigen, wie schwierig es für den Menschen ist, nach dem vermeintlichen Ende des christlichen Gottes menschlich zu bleiben. Theologie in reformatorischer Verantwortung hat die Aufgabe, die biblische Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders auch in die wissenschaftsethischen Diskurse der Gegenwart als Freiheitslehre einzubringen. Dass sich der Mensch vom Zwang befreit wissen darf, sich selbst und die Welt erlösen zu müssen, macht auch die Wissenschaft im tiefsten Sinne des Wortes frei.“

Bonhoeffer geht in seinem Brief an Eberhard Bethge vom 16. 7. 1944 (Brief in „Widerstand und Ergebung“) darauf ein, was es konkret für den christlichen Glauben heißt, wenn die Arbeitshypothese Gott von der säkularisierten Welt nicht mehr gebraucht wird, nämlich – und das hat auch Luther deutlich herausgestellt – die Ausrichtung des Glaubens auf den Gott der Bibel.

„Gott als moralische, politische, naturwissenschaftliche Arbeitshypothese ist abgeschafft, überwunden; ebenso aber als philosophische und religiöse Arbeitshypothese (Feuerbach!). Es gehört zur intellektuellen Redlichkeit, diese Arbeitshypothese fallen zu lassen bzw. sie so weitgehend wie irgend möglich auszuschalten. Ein erbaulicher Naturwissenschaftler, Mediziner etc. ist ein Zwitter. Wo behält nun Gott noch Raum? fragen ängstliche Gemüter, und weil sie darauf keine Antwort wissen, verdammen sie die ganze Entwicklung, die sie in solche Notlage gebracht hat. Über die verschiedenen Notausgänge aus dem zu eng gewordenen Raum habe ich Dir schon geschrieben. Hinzuzufügen wäre noch der salto mortale zurück ins Mittelalter. Das Prinzip des Mittelalters aber ist die Heteronomie in der Form des Klerikalismus. Die Rückkehr dazu aber kann nur ein Verzweiflungsschritt sein, der nur mit dem Opfer der intellektuellen Redlichkeit erkauft werden kann. Er ist ein Traum nach der Melodie: ,,O wüßt‘ ich doch den Weg zurück, den weiten Weg ins Kinderland.“ Diesen Weg gibt es nicht, — jedenfalls nicht durch den willkürlichen Verzicht auf innere Redlichkeit, sondern nur im Sinne von Matth. 18, 3!, d.h. durch Buße, d.h. durch letzte Redlichkeit! Und wir können nicht redlich sein, ohne zu erkennen, daß wir in der Welt leben müssen — ,,etsi deus non daretur“ (sic. als ob es Gott nicht gäbe). Und eben dies erkennen wir - vor Gott! Gott selbst zwingt uns zu dieser Erkenntnis. So führt uns unser Mündigwerden zu einer wahrhaftigeren Erkenntnis unserer Lage vor Gott. Gott gibt uns zu wissen, daß wir leben müssen als solche, die mit dem Leben ohne Gott fertig werden. Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verläßt (Markus 15, 34)! Der Gott, der uns in der Welt leben läßt ohne die Arbeitshypothese Gott, ist der Gott, vor dem wir dauernd stehen. Vor und mit Gott leben wir ohne Gott. Gott läßt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns. Es ist Matthäus 8,17 ganz deutlich, daß Christus nicht hilft kraft seiner Allmacht, sondern kraft seiner Schwachheit, seines Leidens! Hier liegt der entscheidende Unterschied zu allen Religionen. Die Religiosität des Menschen weist ihn in seiner Not an die Macht Gottes in der Welt, Gott ist der deus ex machina. Die Bibel weist den Menschen an die Ohnmacht und das Leiden Gottes; nur der leidende Gott kann helfen. Insofern kann man sagen, daß die beschriebene Entwicklung zur Mündigkeit der Welt, durch die mit einer falschen Gottesvorstellung aufgeräumt wird, den Blick frei macht für den Gott der Bibel, der durch seine Ohnmacht in der Welt Macht und Raum gewinnt.“