Vortrag von Detlef Bald über die Friedensethik Bonhoeffers
Dr. Detlef Bald, ehemaliger Vorsitzender des deutschen Dietrich-Bonhoeffer-Vereins
„…dass die Welt zähneknirschend das Wort vom Frieden vernehmen muss…“
Dietrich Bonhoeffer – sein Leben für den Frieden 1930 – 1934
Dietrich Bonhoeffer wurde am 4. Februar 1906 in Breslau geboren, seine Jugend verbrachte er in Berlin in der akademisch-großbürgerlichen Umgebung im noblen Stadtteil Grunewald, Sohn des Charité-Psychiaters und Professors Karl Bonhoeffer und dessen Frau Paula von Hase; ihr Vater war Theologieprofessor. Im Morgengrauen des 9. Aprils 1945 wurde er durch die SS im oberpfälzischen Konzentrationslager von Flossenbürg hingerichtet. 1943 hatte ihn die Gestapo wegen Hochverrats verhaftet; tatsächlich war er in den Verschwörerkreis des 20. Juli um Admiral Wilhelm Canaris und Hans von Dohnanyi einbezogen.
Der kirchenbezogene Widerstand wurde weder von Politik und Gesellschaft noch von der Kirche anerkannt; allenfalls in den aktiven Kreisen der Bekennenden Kirche um Martin Niemöller galt er als streitbarer Opponent. Die evangelische Reichskirche der Deutschen Christen sah in ihm einen „Extremisten“.[1] Denn die Mehrheit der Kirche suchte die ideologische Nähe des Nationalsozialismus. Bonhoeffer stand zu ihr in kritischer Distanz. In einer Predigt am 15. Januar 1933 warnte er: „Dass wir in der zwölften Stunde der Lebenszeit unserer evangelischen Kirche stehen, dass uns also nicht mehr viel Zeit bleibt, bis es sich entscheidet, ob es aus ist mit ihr oder ob ein neuer Tag beginnt – das sollte uns allmählich klar geworden sein.“ [2] Noch wollte er seiner Kirche nicht die „Totenkränze“ flechten; aber er fürchtete um ihre Zukunft.
Für die Kirche und die Bonner Erinnerungskultur nach 1945 war Bonhoeffer anstößig, weil er so früh den Antisemitismus und die Kooperation der Kirche mit der braunen NS-Diktatur anprangerte. Schon Jahre vor 1933 hatte er sorgenvoll die Tendenzen verfolgt, dass immer mehr Pfarrer der Kirche eine nationalkonservative politische Heimat suchten; er aber lehnte den völkisch gesonnenen „Pastorennationalismus“ strikt ab.[3]
Grundlegung der Friedensethik
Das große Dokument zur Friedensethik hat Dietrich Bonhoeffer im Sommer 1934 verfasst und am 28. August auf der dänischen Insel Fanö vorgetragen.[4] Sein Vortrag ist als „Friedenrede“ berühmt geworden. Aus London, wo Bonhoeffer Pfarrer der evangelischen Gemeinde war und Kontakt zu Mahatma Gandhi, dem Pionier des gewaltfreien Widerstandes, in Indien suchte, hatte der Blick auf die politischen, die militärischen sowie die kirchlichen Verhältnisse in Deutschland diesen nachdrücklich für den Frieden werbenden Vortrag veranlasst. Die Fanö-Rede hatte aktuelle Ursachen, die Kirchen zum Engagement für den Frieden in der Welt zu mahnen.
So bemerkenswert grundlegend Bonhoeffers Eintreten für den Frieden ist, so überraschend ist die Erkenntnis, dass sein Name in der Literatur zur Geschichte des Pazifismus nicht auftaucht. Dabei zählt zu seiner Haltung das, was sonst als „bleibendes Verdienst“ der Friedensbewegung zu Beginn der dreißiger Jahre erkannt wurde: „die Aufdeckung der Konsequenzen der nationalsozialistischen Ideologie“ sowie Warnen vor der „Gefährdung des inneren wie äußeren Friedens“.[5] Auch Bonhoeffer hatte als Zeitgenosse einen markanten Beitrag geleistet, um über das den Frieden bedrohende Gewaltpotential des NS-Regimes aufzuklären.
Noch spannender ist, dass er seine Friedensethik normativ aus der biblischen und kirchlichen Überlieferung hergeleitet hat – ein Diskursbereich, der ihm in der Friedensforschung einen festen Platz hätte sichern müssen; doch das ist nicht der Fall. Bonhoeffers Wirken, seine friedenspolitischen Aufrufe und das friedensethische Werk wurden übergangen. Auch in seinem Fall ergibt sich, dass die historische Wissenschaft die „normative Orientierung am Leitwert des Friedens“ häufig vernachlässigt hat.[6] Bonhoeffer vertrat in all seinen Arbeiten zur Ethik, die seiner Zeit weit vorauseilte, eine egalitär-universalistische Idee der frei gedachten Menschenwürde im Sinne „einer Unteilbarkeit der Grundrechte“ aller Menschen.[7] Zum anderen wurde er tatsächlich vom NS-Regime verfolgt und war in seiner ganzen Biographie seit 1933 ein Opfer wie die „Zerschlagung der Friedensbewegung“.[8]
Im Leben Bonhoeffers gibt es eine existentielle Wende, die kaum hoch genug zu werten ist und auch für seinen Friedensbegriff Bedeutung hat. Es ist die Zeit seines Studienaufenthalts in New York 1930/31; er war 25 Jahre alt, ganz unpolitisch, wohl etwas naiv. Dann öffnete er sich für die Verhältnisse in Gesellschaft und Politik. Er, der Theologe, gewann einen vertieften Zugang zur Bibel und entdeckte in der christlichen Botschaft die persönliche Verpflichtung für das Leben. (Es war ihm wohl aufgegeben, wenn man an die Worte seiner ersten Predigt 1925 denkt, die mit den Worten einsetzte: „Christentum bedeutet Entscheidung, Wendung…“).[9] Wichtig für den Klärungsprozess waren die Freundschaften mit Erwin Sutz und Jean Lasserre ebenso wie Lehrende, z.B. Reinhold Niebuhr: dieser verwies auf den „christlichen Realismus“ – mit der Aussage aktiv sein vor Ort, praxisorientiert, weltoffen, aber wertgebunden handeln.[10] Diesen Wendepunkt reflektierte Bonhoeffer so: „…was mein Leben bis heute verändert hat und herumgeworfen hat. Ich kam zum ersten Mal zur Bibel.“ Befreiend empfand er „insbesondere die Bergpredigt.“[11]
Persönlich erinnerte er in Amerika, in vielen Vorträgen unter anderem vor Friedensgruppen, an die Kriegszeit – er war zehn- bis zwölfjährig. Im September 1930 beschrieb er die Not: „Der Tod stand vor der Tür fast jeden Hauses und begehrte Einlass. Einmal kam die Nachricht vom Tod vieler Tausender siebzehn und achtzehn Jahre alter Jungen, die in wenigen Stunden getötet worden waren. Deutschland wurde zu einem Trauerhaus. Der Zusammenbruch konnte nicht länger aufgehalten werden. Hungersnot und Schwäche waren zu mächtig und vernichtend.“[12] Bonhoeffer blieb nicht beim Elend der Erfahrungen stehen, er gab seine Antwort auf den Krieg: die Deutschen würden „arbeiten für Frieden in ihrem Land, sie werden arbeiten für Frieden in der Welt.“[13] Die Jugend, nahm er optimistisch an, sei „in ihrer Tendenz absolut pazifistisch“. Bonhoeffer gab hier Eindrücke aus Berlin wider; er hatte, was leicht übersehen wird, Kontakt zu Berliner Personen der Friedensbewegung gehabt – so in Studentenkreisen oder besonders zu Friedrich Siegmund-Schultze vom Internationalen Versöhnungsbund. Er vertraute auf ihre „enorme Kraft“. Er hatte also vor seinem Amerikaaufenthalt persönliche Erfahrungen mit christlich orientierten Pazifisten.
Zurück aus New York handelte Bonhoeffer. Nirgends wird das deutlicher als in dem gemeinsam mit dem befreundeten Vikar Franz Hildebrandt in Berlin erstellten „Lutherischen Katechismus“ für den Unterricht von Konfirmanden vom Herbst 1931.[14] Zunächst, nachdem das Gebot erinnert wurde, niemals „anderes Leben anzutasten“, stellten sie die rhetorische Frage: „Aber muss man nicht im Krieg das Leben zerstören?“ und gaben eine geboten eindeutige Antwort: „Eben darum weiß die Kirche nichts von der Heiligkeit des Krieges“ und ergänzte: „Die Kirche, die das Vaterunser betet, ruft Gott nur um den Frieden an.“ [15] Mit dieser Aussage war die Kritik an den damaligen Landeskirchen verbunden, sie hätten ihren Auftrag verloren: „Die Kirche weiß heute mehr denn je, wie wenig sie der Bergpredigt gehorcht.“ Damit stand Bonhoeffer im Widerspruch zur verfassten Kirche – er wurde mehr und mehr Außenseiter.
Spürbar, drastisch und beinah mit satirischer Schärfe beleuchtete der Katechismus die kirchliche Wirklichkeit am Ende der Weimarer Republik zu Beginn der dreißiger Jahre – wohl schmerzliche Enttäuschung anzeigend – mit den Worten: die Kirche weiß, was sie tut. Bonhoeffer analysierte die politischen Prägungen der Mehrheit ihrer Pfarrer und stellte verbreitet Elemente der NS-Ideologie fest. Daher folgte so ein Satz: im Krieg „wird mit entmenschlichten Mitteln der Kampf ums Dasein geführt“; dann weiter: „ein völkisches Trotzen auf Fleisch und Blut“ sei „Sünde wider den Geist“.
Diese politischen Begriffe, eingefügt in die religiöse Unterweisung eines Katechismus, verweisen bereits 1931 auf die Gefahren von rechts, vor der die Jugend geschützt werden sollte. „Kampf ums Dasein“ und „Lebensraum“, die sozialdarwinistischen Alltagsparolen der NS-Propagandawelt, bezeichneten die Gegenwelt des Bösen. Bonhoeffer klärte öffentlich seine Haltung zum Revanchismus der Politik.[16] Daher suchte er andere Gelegenheiten, für seine Position zu werben. Vor Studenten brachte er – ganz stark formuliert – sein Plädoyer für den Frieden auf den Punkt: „Dem Christen ist jeglicher Kriegsdienst, es sei denn Samariterdienst, und jede Vorbereitung zum Krieg verboten.“[17]
Gleich nach der Rückkehr aus New York fand er, der Berliner Privatdozent, Kontakt zum organisierten Pazifismus – zum „Weltbund für Freundschaftsarbeit der Kirchen“, eine ökumenische Friedensorganisation, die auf die große Friedenskonferenz in Den Haag 1907 zurückging. Bonhoeffer wurde auf der nächsten Tagung des Weltbundes im September 1931 in Cambridge zu einem der ehrenamtlichen Jugendsekretäre gewählt. Dies war ein erster praktischer Schritt, sich für Frieden und Verständigung zwischen den Staaten einzusetzen und die Kirchen zu derartigen Initiativen – „das rechte Wort zur rechten Stunde“ – zu bewegen.[18] Doch die heimatliche Kirche nahm Bonhoeffer diese Haltung übel und grenzte ihn – man dürfe mit Gegnern des Weltkrieges keine Kontakte pflegen – politisch aus.
Leitende Männer des Weltbundes, Pioniere der Friedensbewegung, Siegmund-Schultze und Wilfred Monod unterstützten, dass das „Ziel der Friede“ sei.[19] Gerade die Tatsache, „der Weltbund ist mit dem Kriege geboren“, erinnerte an die historische Verpflichtung zur Aussöhnung zwischen den Gegnern des Krieges, zumal der Weltbund symbolträchtig am 2. August 1914 gegründet worden war; nach 1919 entwickelte er sich stärker als transatlantische Bewegung von Laien und Theologen, um über nationale und konfessionelle Grenzen hinweg „freundschaftliche Beziehungen zwischen den Völkern herzustellen“ sowie um internationale „Wege friedlicher Zivilisation“ einschlagen zu können.[20]
Die Versöhnung über die Grenzen hinweg kam für Bonhoeffer aus einem persönlichen Erleben im Herbst 1930. Seit dem Kinobesuch in New York, als er mit seinem pazifistischen Freund Jean Lasserre den Film „Im Westen nichts neues“ anschaute und er erstmals die eigene Enge der national bestimmten Perspektive entdecken sollte, hatte er sich gewandelt und seine Haltung als Deutscher relativiert. Von da an suchte er die nationale Versöhnung zwischen ehemaligen Gegnern. Dann war klar: „Leider war der Protestantismus in Deutschland wie anderswo Träger eines intensiven Nationalismus; die große Mehrheit hat sich in den Strudel ziehen lassen.“[21] Mit dieser Einsicht konnte Bonhoeffer im Weltbund mitarbeiten. Unterstützt wurde er auch von Siegmund-Schultze, der mit großer „Dankbarkeit und Freude“ Bonhoeffers Engagement begrüßte.[22]
Auf der Jugend-Friedenskonferenz des Weltbundes 1932 in den tschechischen Karpaten im ehemaligen Bad Schwarzenburg verband Bonhoeffer in seinem ersten wichtigen Vortrag zwei Komponenten miteinander: erstens die Ökumene, die er als Basis jeder international ausgerichteten, christlichen (und säkularen) Gemeinschaft dachte, und zweitens die Friedensfrage.[23] In der biblischen Tradition des Neuen Testaments lag für ihn das Fundament für Frieden. Hier war der Ort verborgen wie offenbar, das „göttliche Gebot“ zu erspüren.
Bonhoeffer hatte nun sein Fundament: „Das biblische Gesetz, die Bergpredigt ist die absolute Norm für unser Handeln.“ Er gelangte zu der theologischen Konsequenz, Frieden den obersten Rang der ethischen Verpflichtung einzuräumen; Frieden, so stellte er heraus, „ist daher auch das schlechthin kritische und radikale Gebot, das durch nichts anderes… begrenzt wird.“ Folglich galt die Aussage: „Die Ordnung des internationalen Friedens ist heute Gottes Gebot für uns.“ Dieser internationale Friede diene einer „Ordnung der Erhaltung der Welt“, diese Ordnung werde bedroht durch „das völkische Bewusstsein“ und „von extremen Elementen“ in Deutschland. Das militaristische Milieu der Idealisierung des Kampfes sowie die traditionelle Vergötzung kriegerischer Heldentaten mit gewaltträchtigen Machtfantasien als Vorbild für die Jugend müsse überwunden werden. Frieden in Europa werde durch die NS-Parolen der sogenannten nationalen Erneuerung und der Revision der Bedingungen des Vertrages von Versailles von 1919, also durch eine expansionsorientierte Politik bedroht. Entsprechend formulierte er den Auftrag der Kirche: „Darum muss der heutige Krieg, also der nächste Krieg, der Ächtung durch die Kirche verfallen.“
Kirche müsse klar und eindeutig sagen, was sie meine in Sachen Krieg oder Frieden. In Konsequenz galt dann: „Die Kirche muss im Entscheidungsfall eines Krieges konkret sagen können: geh in diesen Krieg oder geh nicht in diesen Krieg.“ In Abwägung der möglichen Alternativen friedenethischer Postulate fand Bonhoeffer das große Leitmotiv seiner Friedensethik: „Pacem facere zur Überwindung des Krieges“. Das galt der Politik. Aber dies war zugleich an die Kirche gerichtet, die die Botschaft der Bergpredigt ernst annehmen solle.
„Wie wird Friede?“: Aufruf zum globalen Frieden
Die Weltbund-Aktivitäten boten Bonhoeffer die Gelegenheit, seine friedensethische Position erneut, aus der Analyse des aktuellen politischen Geschehens, grundsätzlich zu formulieren; eine zweite fundamentale Rede stand an. Dieses Dokument zur Friedensethik entstand in London. Mehrere Anlässe spielten eine Rolle. Aus der Ferne hatten die militärisch inszenierten Aktionen des NS-Regimes, die massive Aufrüstung der Reichswehr zu betreiben, sowie der massenhaft gleichschaltende, uniformgeprägte Alltag ihre martialischen Konturen gezeigt. In der zivilen Londoner Perspektive wirkte all dies befremdlich, krass, abstoßend.
Dann kam aktuell Ende Juni 1934 noch jener riskante Machtkampf zum Austrag, in dem Hitler seine innerparteilichen Widersacher kalt stellte und die militärpolitischen Machtverhältnisse neu regelte. Hunderte Opfer waren in diesem brutalen Blutbad, im sogenannten Röhm-Putsch, zu beklagen. Der NS-Unrechtsstaat zeigte die Perversion der Macht im kalten Morden vor aller Öffentlichkeit; das Regime festigte seine Macht und setzte auf Militär; SS und Reichswehr hatten die Konkurrenz der SA ausgeschaltet.
Dies und die Formierung des staatlich gelenkten Protestantismus der Deutschen Christen (am 9. August setzte Ludwig Müller auf der Reichssynode den neuen Diensteid der Pfarrer durch, die schwören sollten, sich für den „Führer des deutschen Volkes und Staates Adolf Hitler... mit jedem Opfer und jedem Dienste“ einzusetzen) hätten eigentlich schon gereicht; dann stand an, wer die Deutschen im Ökumenischen Rat repräsentiert, die Bekennende Kirche oder die Deutschen Christen – die Entscheidung: „Nationalsozialist oder Christ“.[24] Also „nicht nur die kirchliche Lage“ sondern die politischen Entwicklungen mögen Bonhoeffer getrieben haben, die ihn bewegende ethische Problematik, welchen Auftrag die Christen und die Kirche für den Frieden in der Welt hätten, erneut theologisch zu überdenken und vorzutragen.[25] Die realen Verhältnisse drängten Bonhoeffer zum Handeln. Also weit entfernt von betulicher Friedensduselei und sentimentaler Begegnungseuphorie gelangte er zu der Überzeugung, dagegen halten zu müssen.
Die Gelegenheit ergab sich bald. In diesem Sommer des Jahres 1934 verfasst, stellte Dietrich Bonhoeffer seine Friedensethik in einem Vortrag vor, die berühmte „Friedensrede“, am 28. August anlässlich der Jugendkonferenz auf der dänischen Insel Fanö.[26] Die Ökumene in Gestalt der internationalen christlichen Kirchen, so der Ansatz, bestünde „in allen Völkern und doch jenseits aller Grenzen völkischer, politischer, sozialer, rassischer Art“ und binde die Menschen stärker „als alle Bande der Geschichte, des Blutes, der Klassen und der Sprachen“. Er weitete die Perspektive global und dachte an eine, wie man heute formulieren würde, „innerweltliche Art“ – man könnte vielleicht auch sagen: er dachte an eine globale verbindende, egalitäre Geschwisterlichkeit in gleicher Würde aller Menschen; sie sei die Brücke zwischen den Menschen und setze den Maßstab für die Beziehungen der Menschen, Völker und Staaten – die Voraussetzung für Frieden.
„Wie wird Friede?“ Diese Fragestellung leitete Bonhoeffer normativ. Seine grundsätzliche Erkenntnis war schlicht: eine kategoriale Botschaft der Bibel – und geradezu genial einfach: Frieden als das „Gebot Gottes“, unzweifelhaft ein „bindendes Gebot“ und „nicht als offene Frage zu diskutieren“; es gelte die Verkündigung: „Friede auf Erden.“ Die unabdingbare Ernsthaftigkeit dieses Auftrags richtete Bonhoeffer gegen den Argwohn und die Auffassung, Kriege seien geradezu selbstverständlich wie Naturgesetze und man müsse entsprechend für die Sicherheit der Staaten vorsorgen, zugespitzt in der rhetorischen Frage: „Sollte Gott nicht doch gesagt haben, wir sollten wohl für den Frieden arbeiten, aber zur Sicherung sollten wir doch Tanks und Giftgas bereitstellen?“ Und als ob er nach dem Vorbild des Sokrates in altgriechischem Duktus fortfahren wollte, um die Zweifel klar hervorzulocken, und mit der Frage-Formel schreckte, Frieden durch Aufrüstung? Also etwa „gar durch eine allseitige friedliche Aufrüstung zum Zweck der Sicherstellung des Friedens?“
Bonhoeffer stellte die Begriffe Frieden und Sicherheit einander gegenüber, um deren inneren Widerspruch offenzulegen und eindeutig zu definieren: „Es gibt keinen Weg zum Frieden auf dem Weg der Sicherheit.“ Sicherheit und Frieden müssten unterschieden werden. Die Sehnsucht nach Sicherheiten erzeuge Misstrauen, Misstrauen wiederum gebäre Krieg. Bonhoeffer wählte die Argumente historisch. Die politische Forderung nach Sicherheit führe zur Sicherung nationaler Interessen; staatliche Konkurrenz schüre das Risiko internationaler Machtrivalität. Aufrüstung sei die Parole. In der Politik der dreißiger Jahre sei allerorten dieses Phänomen zu beobachten; Bonhoeffer führte aus: „Die Welt starrt in Waffen und furchtbar schaut das Misstrauen aus allen Augen, die Kriegsfanfare kann morgen geblasen werden“, er warnte: „Wollen wir selbst mitschuldig werden, wie nie zuvor?“ und sich als Entschuldigung auf die klassischen Verse von Mathias Claudius berufen: „‘s ist leider Krieg im Land und ich begehr, nicht schuld dran zu sein.“
Mehrfach in diesem Vortrag wiederholte Bonhoeffer seine leitende Frage – „Wie wird Friede?“ – mit aller Dringlichkeit. In der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit der Gewalt- und Kriegsbereitschaft erkannte er die Schwächen für den Frieden im Handeln Einzelner. Daher folgerte er: Nicht der Einzelne, auch nicht eine einzelne Kirche, sondern die weltweite, christliche Ökumene („das Eine große ökumenische Konzil“) müsse zum Frieden aufrufen, „dass die Welt zähneknirschend das Wort vom Frieden vernehmen muss und dass die Völker froh werden“, weil sie den „Weltmächten“ die „Waffen aus der Hand nimmt und ihnen den Krieg verbietet“. Bonhoeffer gewann mit seinem rhetorischen Geschick seine Zuhörer, begeisterte sie und hinterließ in Fanö mit einer mitreißenden Rede einen unvergesslichen Eindruck bei den jungen Studenten.[27]
Die kritische Analyse der internationalen Beziehungen ergab: die Welt der Staaten Europas zeigte keine Bereitschaft, friedlichen Ausgleich zu wollen. Bonhoeffer hatte, auch im Blick auf den deutschen kirchlichen Kontext dieses Sommers, kein Vertrauen mehr zur versöhnenden Verständigung der Kriegsgegner von 1914. Seine einzige Hoffnung blieb die normsetzende Kraft der weiten Ökumene. In dieser „Friedensrede“ war er bis an die Grenze seiner Fähigkeit, aufzurütteln und zu mahnen, gegangen. Er hatte, in seinen Worten, einen „radikalen Ruf zum Frieden“ angesichts der „rasenden Welt“ ausgesprochen; er fand, es war ein „mutiges Wort“. Er ahnte voller Skepsis, dieser Friedensaufruf an die Jugend wäre wohl in dieser historischen Lage vergebens. So beendete er seine Rede skeptisch: „wer weiß, ob wir uns im nächsten Jahr noch wiederfinden?“
Gleichwohl, der „Ruhm dieser Predigt“ von Dietrich Bonhoeffer – ein außergewöhnliches Dokument für den Frieden – hat die Zeiten „weit überdauert“: es ist einzigartig im Horizont des christlichen Pazifismus.[28] Auf dem Fundament dieser in den frühen dreißiger Jahren vorgelegten Friedensethik folgte konsequent der Weg in den Widerstand, in die einzige Machtorganisation, in der ein „aussichtsreicher Widerstand“ gegen den „Führer“ und das NS-Regime überhaupt Chancen hatte.[29] Daher setzte er sich als Agent der Auslandsabwehr der Wehrmacht ein für den verschwörerischen Widerstand um den 20. Juli 1944. Man kann diesen Widerstand auch verstehen als Eintreten für Freiheit und Frieden – er wollte, mit dem Urteil des Landgerichts Berlin 1996, das die Ziele des Widerstands von Dietrich Bonhoeffer mit den Worten würdigte: „die möglichst schnelle Beendigung des Krieges, die Absetzung Hitlers und die Beseitigung des nationalsozialistischen Staates“.[30]
[1] Vgl. Andreas Pangritz: „…ich bete für die Niederlage meines Landes…“. Dietrich Bonhoeffer – Verräter, Märtyrer oder Patriot, in: Verantwortung, 24/1999, S. 732 ff.
[2] Dietrich Bonhoeffer: Predigten, Auslegungen, Meditationen, hrsg. von Otto Dudzus, Bd. 1, München 1984, S. 340 ff.
[3] Vgl. Wolfgang Huber, Hans-Richard Reuter: Friedensethik, Stuttgart 1990; Detlef Bald: Kirche in der Geschichte – Verantwortung und Zukunft, in: Verantwortung, 49/2012, S. 11ff.
[4] Publiziert als „Kirche und Völkerrecht“, in: Dietrich Bonhoeffer Werke (DBW), Bd. 13, S. 298 ff.
[5] Karlheinz Lipp, Reinhold Lütgemeier-Davin, Holger Nehring (Hg.): Frieden und Friedensbewegung in Deutschland 1892–1992. Ein Lesebuch, Essen 2010, S. 30.
[6] Benjamin Ziemann (Hg.): Perspektiven der Historischen Friedensforschung, Essen 2002, S. 101.
[7] Jürgen Habermas: Zur Verfassung Europas. Ein Essay, Berlin 2011, S. 20.
[8] Karl Holl: Pazifismus in Deutschland, Frankfurt/M. 1988, S. 204.
[9] Predigt, 18. Okt. 1925, in: DBW, Bd. 9, S. 485.
[10] Vgl. zum Einfluss von Niebuhr auf die Politikwissenschaft den Beitrag von Gottfried-Karl Kindermann zu Hans J. Morgenthau: Macht und Frieden. Grundlagen einer Theorie der internationalen Beziehungen, Gütersloh 1963, S. 19 ff.
[11] Brief an Elisabeth Zinn, 27. Jan. 1936, in: DBW, Bd. 14/1, S. 113.
[12] DBW, Bd. 10, S. (381 ff.) 647.
[13] DBW, Bd. 10, S. 650.
[14] Vgl. Holger Roggelin: Franz Hildebrandt. Ein lutherischer Dissenter im Kirchenkampf und Exil, Göttingen 1999.
[15] Glaubst Du, so hast Du, in: DBW, Bd. 11, S. 228 ff.
[16] Vgl. Detlef Bald: Staatstradition und Kirchenreform, in: Reinhard Höppner, Joachim Perels (Hg.): Das verdrängte Erbe der Bekennenden Kirche, Stuttgart 2012, S. 149 ff.
[17] Vortrag vor der Deutschen Christlichen Studentenvereinigung, Dez. 1932, in: DBW, Bd. 12, S. 232 ff.
[18] Klaus Scholder: Die Kirchen und das Dritte Reich, Frankfurt/M. 1977, Bd. I, S. 565.
[19] Vgl. zu dieser bedeutsamen Aktivität Stefan Grotefeld: Friedrich Siegmund-Schultze. Ein deutscher Ökumeniker und christlicher Pazifist, Gütersloh 1995.
[20] Harmjan Dam: Der Weltbund für Freundschaftsarbeit der Kirchen 1914-1948. Eine ökumenische Friedensorganisation, Frankfurt/M. 2001, S. 326.
[21] Zitate in Ilde Gorguet: Die Friedensbewegung und die deutsch-französische Versöhnung in den Zwanziger Jahren: eine Bilanz zehnjähriger Bemühungen, in: Stig Förster, Gerhard Hirschfeld (Hg.): Genozid in der modernen Geschichte, Münster 1999, S. 138.
[22] Brief an D. Bonhoeffer, 10. Nov. 1933, DBW, Bd. 13, S. 26.
[23] Zur theologischen Begründung der Weltbundarbeit, 20. bis 30. Juli 1932, in: DBW, Bd. 11, S. 327 ff.
[24] DBW, Bd. 13, S, 179.
[25] Christiane Tietz: Dietrich Bonhoeffer. Theologe im Widerstand, München 2013, S. 59.
[26] Kirche und Völkerwelt, in: DBW, Bd. 13, S, 298 ff.
[27] Vgl. Ferdinand Schlingensiepen: Dietrich Bonhoeffer 1906 – 1945. Eine Biographie, München 2007, S. 188 ff.
[28] Elisabeth Sifton, Fritz Stern: Keine gewöhnlichen Männer. Dietrich Bonhoeffer und Hans von Dohnanyi im Widerstand gegen Hitler, München 2013, S. 70.
[29] Markus Roth: Verfolgung, Terror und Widerstand im Dritten Reich, München 2015, S. 254.
[30] Aus der Begründung des Landgerichts Berlin, das am 1. August 1996 die Begründung des SS-Standgerichts vom 8. April 1945 aufhob, abgedruckt in Karl Martin (Hg.): Dietrich Bonhoeffer: Herausforderung zu verantwortlichem Glauben, Denken und Handeln. Denkanstöße – Dokumente – Positionen, Berlin 2008, S. 81 ff.