"Dietrich Bonhoeffer. Von der Kriegsbegeisterung zum Pazifismus", Detlef Bald

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Dr. Detlef Bald ist Politikwissenschaftller, Militärhistoriker, Friedensforscher und gehörte zum Vorstand "Deutscher Bonhoeffer-Verein". 

Die großen Worte von Dietrich Bonhoeffer zum Frieden klingen wie helle Erinnerungen, gut und mahnend, leuchtend und klar, manche unerkannt, aber viele bekannt.

Seit 1930 gibt es sie. So, das Gebot ansprechend, „Du sollst nicht töten“, kam prompt die Frage: „Aber muss man nicht im Krieg das Leben zerstören?“, worauf er die christlich-pazifistische Antwort gab: „Eben darum weiß die Kirche nichts von der Heiligkeit des Krieges“ und er bekräftigte noch: „Die Kirche, die das Vaterunser betet, ruft Gott nur um den Frieden an“.[1] Voller Sorge wies er schon 1932 auf die Folgen der NS-Ideologie des völkischen Expansionismus hin, in jedem nationalen Krieg „wird mit entmenschlichten Mitteln der Kampf ums Dasein geführt“; dann weiter: „ein völkisches Trotzen auf Fleisch und Blut“ sei „Sünde wider den Geist“. Bonhoeffer erahnte früh die Kriegsgefahr.

Ebenso eindringlich brachte Bonhoeffer in starken Worten ein Plädoyer für den Frieden vor Studenten an der Uni auf den Punkt: „Dem Christen ist jeglicher Kriegsdienst, es sei denn Samariterdienst, und jede Vorbereitung zum Krieg verboten“.[2] Bonhoeffer meinte diese Aussage ernst; daher nahm er 1939 die Prüfung an, als er zur Wehrmacht eingezogen werden sollte; seine erste Lösung, Pfarrer im Sanitätsdienst, lehnte man kategorisch ab. Die pazifistische Haltung Bonhoeffers hatte sich lange vor 1933 gefestigt; er unternahm viele praktische Schritte, für Frieden und Verständigung zwischen den Staaten zu werben und vor allem, die Kirchen dafür zu gewinnen, also ein entsprechendes, „das rechte Wort zur rechten Stunde“ zu sprechen.[3] Doch davon wollte die heimatliche Kirche nichts wissen; sie dachte auch am Ende der Weimarer Republik eng nationalistisch und revanchistisch. Nicht zufällig hatten ihn, als er in Cambridge im Sommer 1931 ökumenische Aufgabe übernahm, prominente Berliner Theologen (Karl Althaus, Emmanuel Hirsch) vor Kontakten nach England unversöhnlich in einer deutschlandweiten Kampagne gewarnt, denn zwischen Deutschland und „den im Weltkrieg siegreichen Nationen“ könne es keine „Verständigung“ geben.[4] So war im Alter von 25 Jahren Pfarrer Dr. Dietrich Bonhoeffer ungewollt, aber massiv in Kollision mit der verfassten deutschen Kirche geraten.

I. Zur Weite der Friedensethik

Den ersten Höhepunkt, die Weite der Friedensethik vorzustellen, gab es im Juli 1932 auf der Jugend-Friedenskonferenz in Tschechien im ehemaligen Bad Schwarzenburg; dort präsentierte Bonhoeffer sein Konzept zur internationalen Friedensfrage.[5] In den Fokus seiner Argumentation stellte er den biblisch-neutestamentliche Frieden; seine Gedanken gingen in eine Richtung, die spüren ließ, dass Bonhoeffers Verständnis von Frieden im eigentlichen Sinn eine Botschaft war: verborgen wie offenbar – das „göttliche Gebot“ von Frieden. Im Neuen Testament sei einzigartig bezeugt: „Das biblische Gesetz, die Bergpredigt ist die absolute Norm für unser Handeln.“ Sie sei „ernst zu nehmen und zu realisieren“ als Verpflichtung zum Frieden, das „Gebot von Christus her“, galt für Bonhoeffer verbürgt. Und er gelangte zu der klaren, herausfordernden Aussage: „Die Ordnung des internationalen Friedens ist heute Gottes Gebot für uns.“ Dieser Friede diene einer „Ordnung der Erhaltung der Welt“, gebunden an Wahrheit und Recht.[6] Dieser Friede – erneut der aktuelle Bezug zur rassistisch-nationalistischen NS-Ideologie – werde bedroht durch „das völkische Bewusstsein“ und „von extremen Elementen“ in Deutschland. Entsprechend folgerte er: „Darum muss der heutige Krieg, also der nächste Krieg, der Ächtung durch die Kirche verfallen.“ Oder wie er bald forderte, die Kirche müsse „dem Rad in die Speichen“ fallen.

Bonhoeffer fand dieses berühmte Leitmotiv seiner Friedensethik: „Pacem facere zur Überwindung des Krieges“. Das galt der Kirche wie auch der Politik. Nüchtern erkannte er die spürbare Distanz zur Mehrheit der deutschen Pfarrer, die in diesen Jahren den Nationalprotestantismus mit seinem typisch militäraffinen Schwertglauben vertraten, verbunden mit Parolen der braunen rechten Politik. Das hatte Bonhoeffer seit seiner Rückkehr aus Amerika besorgt. In einem Brief äußerte er seine Befürchtungen vor dem NS-Regime: „eine grauenhafte kulturelle Barbarisierung“ und, seinem eigenen Schicksal Grenzen aufweisend: „Der Weg der Kirche ist so dunkel wie selten zuvor“.[7]

Staat und Kirche boten Bonhoeffer den Anstoß zu dieser großen Friedensmahnung – zum einen in der Kirche, als am 9. August 1934 der neue Diensteid der Pfarrer beschlossen wurde, dem „Führer“ Adolf Hitler „mit jedem Opfer und jedem Dienste“ zu folgen, und zum andern in der Politik, als das NS-Regime nach dem Röhm-Putsch die gewaltige Wende in der Militarisierung vollzog. In Sorge vor einer kriegerischen Zuspitzung konzentrierte er alles auf die Frage: „Wie wird Friede?“ Bonhoeffer suchte eine normative Lösung, als er am 28. August 1934 auf der dänischen Insel Fanö an das Rednerpult trat (DBW 13, 298 ff.).[8] Seine Erkenntnis und seine Botschaft zielten auf die christlich fundamentale Kategorie, genial einfach: Frieden als das „Gebot Gottes“, ohne Zweifel ein „bindendes Gebot“ und „nicht als offene Frage zu diskutieren“; es gelte die Verkündigung der Bibel: „Friede auf Erden.“ Für Frieden, für Wahrheit und Recht müsse der „Kampf“ gewagt werden.

Bonhoeffer stellte die übliche Auffassung infrage, Kriege seien normal und hinzunehmen in der Politik; man müsse entsprechend mit Waffen für Sicherheit sorgen. Also spitzte Bonhoeffer rhetorisch zu: „Sollte Gott nicht doch gesagt haben, wir sollten wohl für den Frieden arbeiten, aber zur Sicherung sollten wir doch Tanks und Giftgas bereitstellen?“ Und, um den Kontrast zu markieren, erschreckte er mit der Formel, kein Frieden durch Aufrüstung – in seinen Worten: Etwa „eine allseitige friedliche Aufrüstung zum Zweck der Sicherstellung des Friedens?“.

Bonhoeffer wiederholte in Fanö seine leitende Frage – „Wie wird Friede?“ – mit aller Dringlichkeit. Im Blick auf die gesellschaftliche und politische Wirklichkeit, die Gewalt- und Kriegsbereitschaft mit ihren Schatten der großen Zerstörungen erkannte er, die Chancen eines Friedens lägen nicht im Handeln Einzelner. Nicht der Einzelne, auch nicht einzelne Kirchen, sondern die weltweite Ökumene sei aufgerufen, „dass die Welt zähneknirschend das Wort vom Frieden vernehmen muss und dass die Völker froh werden“, wenn die Friedensbewegung den Machthabern „die Waffen aus der Hand nimmt und ihnen den Krieg verbietet“.

Bonhoeffer trennte die Begriffe Frieden und Sicherheit; sie dürften nicht verwechselt werden. „Es gibt keinen Weg zum Frieden auf dem Weg der Sicherheit.“ Die Kategorien Sicherheit und Frieden seien grundsätzlich zu unterscheiden. Die Sehnsucht nach Sicherheit erzeuge Misstrauen, Misstrauen wiederum gebäre Krieg. Bonhoeffer begründete die Argumente historisch. Sicherheit sei verbunden mit politischer Sicherung nationaler Interessen durch die Macht der Staaten und durch staatliche Konkurrenz sowie internationaler Machtrivalität. Die Gegenwart war bestimmt von diesen nationalistischen Denkschemata; Irritationen trieben Bonhoeffer doch noch um: „Die Welt starrt in Waffen und furchtbar schaut das Misstrauen aus allen Augen, die Kriegsfanfare kann morgen geblasen werden“, klangen noch  Sorgen: „Wollen wir selbst mitschuldig werden, wie nie zuvor?“

II. Die große Wende des Dietrich Bonhoeffer

Dietrich Bonhoeffer hat diese Haltung zu Frieden und Krieg nicht einfach formulieren können; er musste schwer darum ringen, um sich zu klären.[9] Er hat eine existentielle Wende des Glaubens und Denkens vorgenommen; es war keine einfache Sache, als ob er nur einen Schalter umlegen würde. Ohne das Mitwirken glücklicher Umstände und persönlicher Kontakte wäre es nicht gegangen. Drei Faktoren haben Bonhoeffers Wende herbeigeführt.

Unter den persönlichen Begegnungen in New York 1930 soll nur eine erwähnt werden, die zur Orientierung beitrug; nämlich nur jener, der ihn mit dem Denken der „Realistischen Schule“ vertraut machte. Er lehrte ihn, einen Normen-Ansatz mit der wirklichkeitsnahen Analyse zu verbinden. Das wurde die Basis von Bonhoeffers christlich-pazifistischer Friedensethik.[10] Reinhard Niebuhr, der Freund bis in den Krieg, überzeugte ihn: „Politische Ethik besteht (…) primär in der verantwortlichen Wahl“ der politisch-praktischen Alternativen.[11] Zur Analyse der Wirklichkeit forderte er eine kritische, zugleich empirisch-akribisch Methode, um die machtpolitischen Wirkfaktoren benennen zu können. Niebuhr ging es um die Zähmung der Macht durch politische Ethik – ohne den Anspruch, eine ideale Welt zu verwirklichen; darum ging es in den Niebuhr-Bonhoeffer-Gesprächen. Im Kampf um Gerechtigkeit sei die erkennbare Realität nicht „weniger wertvoll“ als das Ideal, die „vollkommene Gerechtigkeit, in deren Namen der Kampf eröffnet wurde.“[12] Bonhoeffer lernte, Ideale auf die Wirklichkeit zu beziehen.

Diese Klarheit politisch-gesellschaftliche Realität passte; Realist, ja kritischer Realist war Bonhoeffer seit der Jugend. Dies führt zum zweiten Faktor seiner Wende. Ihn leitete keine Friedenseuphorie oder die pure Vision einer pazifistischen Welt. Er analysierte scharf historisch-ökonomisch die Moderne. So untermauerte er die fundamentale These: „Die Geschichte des Westens belehrt uns, dass dies eine Geschichte der Kriege gewesen ist.“ Dies sah er als Ursache für Wohlstand und Reichtum im Abendland. Bonhoeffer war überzeugt: die Identität des Westens war eine Geschichte der Kriege und der militärischen Macht. Globale Ausbeutung der Rohstoffe bei den einen führte zu Fortschritt und Status bei den andern.[13] Der Erfolg der globalen Expansionen basiere „im eigentlichen Sinn“ auf der Bereitschaft zum „Töten“;[14] Töten im Krieg im Interesse der Ausbeutung in den langen Jahrhunderten des Kolonialismus. Das Ärgste schien: Die Kirchen haben diese Welt der Machtausübung immer mitgetragen, auch ausdrücklich den Segen erteilt; eine schlimme „Sanktifikation des Politischen“.[15] Bonhoeffer erkannte den komplexen Zusammenhang zwischen Krieg und „die Natur zu beherrschen, bekämpfen, in seinen Dienst zu zwingen“, eine „Herrscherstellung des Menschen über die Natur“.[16] Dies zur Einordnung der Geschichte.

Krieg, wagte Bonhoeffer den Blick auf die Gegenwart, würde im Zeitalter der Technik durch die maschinelle Produktion der Waffensysteme noch effizienter, noch zerstörerischer, noch vernichtender. „Darum sind ihre Mittel rücksichtsloser.“ Seine Gedanken kreisten um den kommenden Krieg, er werde schlimm, da in ihm „alles – auch das Verbrechen – gerechtfertigt wird“.[17]  Dann bezog er diese Entwicklung auf die Politik des NS-Regimes. Er nahm die NS-Termini von „völkischer Selbsterhaltung“ und „Lebensraum“ auf und befürchtete, nun drohe der „totale Vernichtungskrieg“. Bonhoeffer erkannte früh das realistische Bild der militärischen Expansion des Zweiten Weltkrieges. Dies alles bildet die Basis seiner Friedensethik.

Um diesen Weg zu seiner Ethik des Friedens zu gehen, hatte Dietrich Bonhoeffer allerdings noch einen weiteren, den dritten und wohl schwersten Schritt zu tun. Im traditionalistischen Universitäts-System hatte er studiert. Nun, im Alter von 24 Jahren, kam der Umbruch zur Friedenstheologie; mit 18 Jahren hatte er zu studieren begonnen. Was aber hatten seine Lehrer der Theologie in der Fakultät über Staat, Krieg und Frieden gelehrt?[18]

Zur Illustration Beispiele seines Lehrers Erich Seeberg in Berlin: Deutschland „will sich ausrecken und ausbreiten nach den Maßen, die der Schöpfer ihm verlieh.“ Oder: „Unser Volk“ führe diesen Krieg, gemeint war der Erste Weltkrieg, „gemäß der Liebespflicht gegen die eigenen Kinder“ als das „Liebeswerk des Krieges“. Rasse und Auslese bezeugten die „sittliche Kraft eines Volkes“.[19] So die Lehre des Luther-Nationalprotestantismus, eben national-expansiv und rassistisch unterlegt. Dieses Denken war 1918 natürlich nicht untergegangen und leitete weiterhin Bürgertum und Pfarrer.

Zur theologischen Systematik noch ein paar Zitate zum Thema Staat, Nation und Militär. Ein zentraler Satz: „Dort, wo Völker angerufen werden, da ist Wille Gottes zur Geschichte.“ Der Text fuhr fort: Wenn ein Volk „sich unter Gottes Willen beugend in den Krieg zieht, um seine Geschichte, seine Sendung in der Welt zu erfüllen, (…) da weiß es sich von Gott aufgerufen“.[20] Keine Zweifel gab es, Geschichte unterlag Gottes eigener Lenkung, Gewissheit verkündend: „Jedes Volk aber hat einen Ruf Gottes in sich, Geschichte zu gestalten.“ Das Ziel erscheint: „Gott ruft das Volk zur Mannhaftigkeit, zum Kampf und Sieg.“ Schließlich ging es um den schicksalhaften Eroberungskrieg, „ein Volk“ könne „über das Leben anderer Völker“ bestimmen.[21] Pazifisten nannten es einen „Schwertglauben“ (Friedrich Wilhelm Foerster).

Die Theologie wurde auch historisch-germanisch unterlegt: „Die Ethik ist Sache des Blutes und Sache der Geschichte.“ So klang die theologische Blüte des Rassismus in der Tradition des Kaiserreichs. Es gäbe keine humane oder christliche Ethik, vielmehr sei sie national, also „eine deutsche Ethik und eine französische Ethik wie eine amerikanische Ethik“.[22] Daher hieß es nahezu brutal: „Christentum und Ethik haben gar nichts miteinander zu tun, christliche Ethik gibt es nicht“.[23] Heute klingt das alles ungeheuerlich. Solcher Glauben erleichterte es dann, sich mit dem NS-Regime zu verquicken.[24] Mit dieser extremen Theologie wuchs Bonhoeffer auf, er lernte an der Uni die Welt des völkischen Rechts auf Krieg und Sieg, von Gott gewollt. Zur Klärung: Alle hier genannten Zitate sind wörtlich von Bonhoeffer aus den zwanziger Jahren. Es war ein weites Feld, das er überwinden musste.

Er hatte immerhin zuvor in Berlin Berührungen zum Pazifismus. Da war in Grunewald der Nachbar Ernst von Harnack, der im Vorstand des „Bundes der religiösen Sozialisten“ wirkte; auch Günther Dehn war dort aktiv; dessen Predigten hatte Bonhoeffer in Berlin-Moabit seit Jahren besucht, oder Friedrich Siegmund-Schultze, dessen Seminare in der Familie Bonhoeffer schon lange Zuspruch erfahren hatten; alle zählten zur kleinen, aber wenig angesehenen Gruppe protestantischer Pazifisten, deren Kontakte Bonhoeffer schätzte.[25] Bonhoeffer publizierte auch Beiträge in der „Eiche“, einer pazifistischen Zeitschrift.

Die Wende des Dietrich Bonhoeffer im Jahr 1930 im Alter von 24 Jahren war fundamental, grundlegend und existentiell. Diese Wende zum Pazifismus erscheint wie ein radikaler Einbruch ins Leben – wie eine Besinnung, eine Umkehr wie einstmals in der Bibel der Wandel vom Saulus zum Paulus umschrieben wurde. Die uneingeschränkte Annahme der Bergpredigt lässt ein derartiges Bild der Erinnerung zu. Es war ja, wie Bonhoeffer sagte, sein Weg zur Bibel; erstmals in seinem Leben war ihm diese Dimension des Glaubens bewusst geworden. Um es zu betonen, Bonhoeffer hätte niemals ohne die Bindung der Ethik an die Realität, ohne kritische Analyse der Politik der Kriege und ohne diese Bibelzuwendung der Bergpredigt mit der Klärung gegenüber der etablierten Theologie das Fundament seiner Friedensethik legen können; er hätte keine Friedensethik hinterlassen können, die unsere Phantasie bewegt.

III. Umsetzung der Friedensethik von Bonhoeffer

Die ethische Verpflichtung zum Frieden hat den Theologen Dietrich Bonhoeffer bewegt und getragen, er hat aufgerüttelt und gemahnt; ebenso hat er seinen „radikalen Ruf zum Frieden“ in der „rasenden Welt“, wie er in Fanö sagte, auch in Deutschland umzusetzen versucht. Die Lage war mehr als ernst, denn die Reichskirche meldete ihn gleich der Polizei mit den Worten, er sei „Pazifist und Staatsfeind“; soviel zur Amtskirche, der „völkischen Nationalkirche“. Bonhoeffer erkannte diese Politisierung längst: „Die Frage ist wirklich Germanismus oder Christentum“.[26] „Widerwärtig“ erschien ihm die Lage: „Wie lange ich Pfarrer und in dieser Kirche bleibe, weiß ich nicht. Vielleicht nicht mehr lange“.[27]

Aber Bonhoeffer gab nicht auf. Daher sagte er den lang geplanten und fest zugesagten Besuch bei Gandhi in Indien 1934 ab, wo er das Konzept des gewaltfreien Widerstandes vertiefen wollte. Stattdessen übernahm er eine praktische Friedensarbeit; mit dem Ziel, Vikare auszubilden, baute er in Finkenwalde ein Zentrum im Kampf gegen das NS-Denken in Kirche und Staat auf. Die Lage war ernst: „Die neue Kirche, die in Deutschland werden muss, wird sehr anders aussehen als die jetzige Oppositionskirche“,[28] gemeint war die Bekennende Kirche. Finkenwalde blieb das visionäre Modell „einer Art neuen Mönchtums“ einer politisch-religiösen, verschworenen Gemeinde;[29] im Geist einer Bruderschaft sollte „eine fest geordnete und geregelte Gemeinschaft des Lebens“ entstehen, die fähig sei, „in den gegenwärtigen und kommenden kirchlichen Kämpfen“ diese Aufgaben zu erfüllen.[30] Später gehörten diese Pfarrer dann „mitten unter die Feinde“.[31] Das trieb ihn an, bevor sich die Tore öffneten.

Diese verschworene Elite von Pfarrern sollte auch das Potential zum politischen Handeln haben; sie sollten ihre Friedens-Haltung in der Gesellschaft übernehmen. Dafür wurden sie über Ideologie und Macht des NS-Regimes aufgeklärt, gerade um den Militarismus mit seiner Bereitschaft zu erkennen, ohne wenn und aber in einem Vernichtungskrieg germanischen Lebensraum zu erobern. Doch in Bonhoeffers Leben blieb dieses Kapitel, Vikare zum Kern einer Reform von Kirche und Staat auszubilden, eine Utopie – bis auf wenige, einzelne Vertraute. Die Verwirklichung dieses Konzepts scheiterte an den Verhältnissen. Doch Bonhoeffer gab nicht auf. Sein Kampf gegen das NS-Regime führte ihn geradewegs in den Widerstand, um die NS-Diktatur durch Tyrannenmord zu beenden.

In Bezug zur Frage nach der Relevanz der Friedensethik heute wird ein praktischer Ansatz aufgenommen: Was kann oder könnte Dietrich Bonhoeffer heute bedeuten? Diese Frage soll mit aller Vorsicht eine natürlich hypothetische Erörterung erfahren; nur ein Versuch – geradezu ein Anstoß allein zum Weiterdenken, anderes kann es nicht sein. Darum soll es hier gehen. Dieses Wagnis bezieht sich auf zwei Bereiche der Friedensethik weit unterhalb der Schwelle, ob militärische Unterstützung für die Ukraine zu leisten sei. Ein Beispiel betrifft die Kirche, das andere die Bundeswehr.

Der Aspekt der Kirchen-Wirklichkeit handelt von der Militärseelsorge heute. Ein aktuelles Beispiel ist eine Veröffentlichung durch einen Pfarrer. Es geht um die Traditionswürdigkeit eines Admirals der Bundeswehr, dessen Büste in der Aula der Marine-Schule in Mürwik auf einen Ehrensockel gestellt wurde. Er hatte als Admiral im April 1945, zwei Wochen vor Kriegsende, die Todesurteile für fünf junge Menschen von Helgoland abgezeichnet, weil sie die große Bombardierung der Insel mit Hunderten von Opfern verhindern wollten. Nun setzte sich der Militärdekan, der persönliche Referent des Militärbischofs in Berlin, für eine positive Würdigung dieses Admirals ein. Jeder solle sich vor einer „schnellen Aburteilung… hüten“; vielmehr sei „Versöhnungsfähigkeit“ denen gegenüber gefragt, „die als Täter in ihrer Zeit schuldig wurden.“[32]

Dieser Admiral war zugleich zuständig für endlose Kolonnen von Zwangsarbeitern, also für Tausende von Zivilisten aus Polen und Frankreich, für Kriegsgefangene aus der Sowjetunion und Italien sowie für Tausende Häftlinge aus dem KZ Neuengamme, die in Bremen, bewacht von Marinesoldaten und SS, in Lagern bis Mitte April 1945 für Bauten der Marine schufteten.[33] Historisches Geschehen kann auf der Waage der Werte christlicher Ethik  unterschiedlich Gewicht erfahren; aber rechtfertigt diese Geschichte das Vorbild heute? Diese Traditionswürdigkeit verneinen, kann nicht, wie es beim Dekan anklingt, als „Tugendterror“ klassifiziert werden.[34] Das Beispiel gibt zu bedenken, ob die Kirche die Grenzen ethischer Werte beachtet – dem Maße der Friedensethik von Bonhoeffer folgend ist das Handeln des Admirals kein Vorbild in der Gegenwart!

Der zweite Themenbereich zum gegenwärtigen Militär wird knapp vorgestellt, ob er zum Frieden beiträgt. Seit Gründung der Bundeswehr ist in allen Gesetzen zum „Staatsbürger in Uniform“ die Norm von der Integration in Staat und Gesellschaft gültig. Doch in der Geschichte besteht eine bestimmte Kontinuität. Früh forderte ein Minister, den „Geist der Wehrmacht“ zu erhalten Weitere Fälle: Am Ende der 60er Jahre spitzten Generale ihre antidemokratische Haltung zu, wie „keine übertriebene parlamentarische Kontrolle“ mehr oder „Freiheit und Demokratie“ seien keine „letzten Werte“, daher könne man nun endliche „die Maske“ der Inneren Führung „ablegen“; es mündete in der radikalen „Umformung der zivilen Gesellschaft an Haupt und Gliedern“ nach dem Vorbild des Militärs.

Oder, Anfang der 80er Jahre wurde der Kämpfermythos der Wehrmacht als „verpflichtender Bestand“ der Tradition für die „Kriegsbundeswehr“ gefordert; der Minister verlangte, den „Ehrenschild der Wehrmacht“ zu bewahren.[35] Seit den 90er Jahren geht es um den „archaischen Krieger“; bei „freiheitlichen“ Werten in der Gesellschaft, „dagegen“ bei einer eigenen Wertewelt im Militär.[36] Das Heeresamt legte nach, lobte „Geist und Haltung der SS-Standarte Adolf Hitler“ und erklärte „die gesamte Tradition des preußisch-deutschen Generalstabs… als verbindlich“. Eine neue Kampagne erfolgte nach 2006, als die „kleine Kampfgemeinschaft“ mit dem Ziel des „feldverwendungsfähigen Soldaten“ der Wehrmacht Lernziel für die Ausbildung wurde; zur Unterstützung dienten „Ausbildungshilfen“ mit Hunderten von Seiten voll mit originalen Wehrmachts-Vorschriften aus den 40er Jahren.[37] Dazu passt, dass der MAD 962 Verdachtsfälle für Rechtsextremismus im Jahr 2022 notierte.[38]

Ein Fazit. Für alle die Menschen heute in der Bundesrepublik, die eine Verteidigungsfähigkeit für notwendig und wünschbar halten, wird eine wehrmachtsbezogene Ausrichtung der Bundeswehr kaum mit Friedensfähigkeit zu verbinden sein. Diese rechten Tendenzen bündeln das Vorbild vom expansiven, rassistischen Angriffskrieg, gemäß dem Typ Vernichtungskrieg: Keine Tradition zur defensiven Verteidigung dieser Republik; unvereinbar mit der Friedensethik Bonhoeffers. Soweit zwei Beispiele, um zu prüfen, welche Relevanz eine Friedensethik in unserer Zeit hat, haben kann oder haben soll.

IV. Das Friedenskonzept von Bonhoeffer

Die Friedensethik von Dietrich Bonhoeffer ragt aus der Geschichte des deutschen Protestantismus weit heraus; sie ist ein einzigartiger Beitrag zum Pazifismus. Hans Christian von Hase sah schon in dem Ende 1930 erkennbaren Konzept den ersten Schritt Bonhoeffers hin „zum Sprecher der deutschen Friedensbewegung“, für die er danach „leidenschaftlich“ geworben hatte.[39] Diese Orientierung wurde auch als Bonhoeffers „Reise zur Wirklichkeit“ mit dem „geschichtlichen Zwang“ erklärt, wie Carl-Friedrich Weizsäcker feststellte.[40] Die Wende 1930 weg vom Luther-Protestantismus hatte dem Universitätstheologen des bürgerlichen Protestantismus Bahn gebrochen hin zu einem eigenständigen Reformtheologen gegenüber der NS-lastigen Kirche und der aufkommenden NS-Zeit. Sein Leben bezeugt die Verantwortung des seiner Selbst bewussten Christen.

Es ist nicht übertrieben, wenn über die Fanö-Friedensethik das Urteil gefällt wird, dass der „Ruhm dieser Predigt“ die Zeiten „weit überdauert“: ein großartiges Dokument des Pazifismus, gegründet auf christlicher Basis.[41] Bonhoeffer reihte sich ein in die berühmte Friedensbewegung der zwanziger und frühen dreißiger Jahre, wie sie prominent von den Religiösen Sozialisten, vor allem von Friedrich Siegmund-Schultze seit der Vorkriegszeit, seit 1914 verkörpert wird. Auch Bonhoeffer trug zu dem „bleibenden Verdienst“ des Pazifismus bei, nämlich früh die „Konsequenzen der nationalsozialistischen Ideologie“ aufgedeckt sowie vor der „Gefährdung des inneren wie äußeren Friedens“ gewarnt zu haben.[42] Er stand in der Tradition des frühen Pazifismus, die politisch bis zu Bertha von Suttner reicht; sie alle klagten über die „Schrecken der Kriege im Zeichen der Nationalismen und Ideologien“.[43] Insofern legte er die militaristische Aufrüstung des NS-Regimes offen; er erkannte die „Schrecken der Kriege“ des Vernichtungskrieges – am Ende der Weimarer Republik in der Dämmerstunde des NS-Regimes.

Bonhoeffer entwickelte für die Friedenspolitik ein Konzept des Handelns; um der Umsetzung dieser Ziele realistisch Chancen zu geben, setzte er auf eine Politik der militärischen Abrüstung als Voraussetzung einer internationalen Entspannung durch die Begrenzung staatlicher und finanzieller Macht; zugleich forderte er den Einsatz für eine sozial gerechte Gesellschaft im Innern als Bedingung für den Frieden zwischen den Staaten.

Bonhoeffer hat die Grundlagen einer umfassend begriffenen, einzigartigen Ethik einer christlich-ökumenisch verantworteten Friedenskultur vorgelegt. Er vertraute einem Friedensbegriff,

  1. der universell, für die ganze Menschheit, global Geltung hatte und sich gegen jeglichen Nationalismus wandte;
  2. der überkonfessionell und kulturübergreifend war, ohne Gedanken an vermeintliche Rassengrenzen;
  3. der die religiöse Haltung des Einzelnen mit dem Frieden in der Gesellschaft verband.

Dietrich Bonhoeffers Friedensethik war grundlegend – sein Erbe ist noch heute zugleich Auftrag, wie er 1943 im Gefängnis formulierte: „Die letzte verantwortliche Frage ist nicht, wie ich mich heroisch aus der Affäre ziehe, sondern wie eine kommende Generation weiterleben soll“.[44]

Erscheint in: Jahrbuch Friedenstheologie, 2024.

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[1] Dietrich Bonhoeffer, Franz Hildebrandt: Katechismus. Glaubst Du, so hast Du, in: Dietrich Bonhoeffer Werke (DBW), Bd. 11, S. 228 ff.

[2] Vortrag vor der Deutschen Christlichen Studentenvereinigung, Dez. 1932, in: DBW, Bd. 12, S. 232 ff.

[3] Klaus Scholder: Die Kirchen und das Dritte Reich, Frankfurt/M. 1977, Bd. I, S. 565.

[4] DBW, Bd. 12, S. 85.

[5] Dietrich Bonhoeffer: Zur theologischen Begründung der Weltbundarbeit, 20 bis 30. Juli 1932, in: DBW, Bd. 11, S. 327 ff.

[6] Vgl. Andreas Pangritz: Dietrich Bonhoeffers ökumenische Friedensethik damals – und heute?, in: Verantwortung, Nr. 69, 2022, S. 19 f.

[7] Bonhoeffer an Niebuhr, Febr. 1933, in: DBW, Bd. 12, S. 50 f.

[8] Dietrich Bonhoeffer: Kirche und Völkerwelt, in: DBW, Bd. 13, S. 298 ff.

[9] Vgl. Detlef Bald: Dietrich Bonhoeffer 1906 – 1945. Der Weg in den Widerstand. „Ich bete für die Niederlage meines Landes“, Darmstadt 2021, S. 50 ff.

[10] Vgl. die Bedeutung von Reinhard Niebuhr für die Wissenschaft bei Gottfried-Karl Kindermann in der Einleitung zu Hans J. Morgenthau: Macht und Frieden. Grundlegung einer Theorie der internationalen Politik, Gütersloh 1963, S. 19 ff.

[11] Ebenda, S. 40.

[12] Reinhold Niebuhr: Jenseits der Tragödie, München 1947, S. 164; vgl. Reinhold Niebuhr: Glaube und Geschichte, München 1951.

[13] Vgl. Hans Maier: Gewaltdeutungen im 19. Jahrhundert, in: Ders. (Hg.): Wege in die Gewalt. Die modernen politischen Religionen, Frankfurt 2000, S. 54 ff.

[14] Dietrich Bonhoeffer: Das Recht auf Selbstbehauptung, 4. Febr. 1932, in: DBW, Bd. 11, S. 230.

[15] Vgl. den Einfluss von Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. Mit einem Geleitwort von Rudolf Bultmann, München 1964.

[16] Ebenda, S. 221.

[17] Dietrich Bonhoeffer: Ethik, in: DBW, Bd. 6, S. 100.

[18] Zur langen Tradition der Theologie: Karl Hammer: Deutsche Kriegstheologie1870-1918, München 1974.

[19] Vgl. Zitate bei Detlef Bald: Das „Liebeswerk des Krieges“ – ein „traditionell-dogmatischer Starrsinn“. Bonhoeffer und sein Lehrer Seeberg, in: Verantwortung, Nr. 56, 2015, S. 62.

[20] Dietrich Bonhoeffer: Sanctorum Communio, in: DBW, Bd. 1, S. 74.

[21] Bonhoeffer: Grundfragen, S. 339; vgl. Sebastian Kranich: Evangelisch im Ersten Weltkrieg. Theologen, Politiker und „deutsche Jugend“, in: Protestantismus und Erster Weltkrieg, hrsg. von Peter Bürger, Ulrich Hentschel, Norderstedt 2020, S. 91 ff. 

[22] Ebenda, S. 323.

[23] Ebenda, S. 327.

[24] Ein typischer Aspekt bei Ernst Klee: „Die SA Jesu Christi“. Die Kirche im Banne Hitlers, Frankfurt 1989.

[25] Vgl. Bald: Bonhoeffer, S. 38 f.; vgl. zum weiteren christlichen Pazifismus Dieter Riesenberger: Die katholische Friedensbewegung in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1976; Karl Holl, Wolfram Wette (Hg.): Pazifismus in der Weimarer Republik, Paderborn 1980.

[26] Bonhoeffer an Großmutter Julie, 20. Aug. 1933, in: DBW 12, S. 118.

[27] Bonhoeffer an Erwin Sutz, 28. April 1934, in: DBW, Bd. 13, S. 129.

[28] Bonhoeffer an Reinhold Niebuhr, 13. Juli 1934, in: DBW, Bd. 13, S. 171.

[29] Bonhoeffer an Bruder Karl-Friedrich, 14. Jan. 1935, in: DBW, Bd. 13, S. 273.

[30] Bonhoeffer an Rat der Evgl. Kirche der Altpr. Union, 6. Sept. 1935, in: Bd. 14/I, S. 77.

[31] Dietrich Bonhoeffer: Gemeinsames Leben, in: DBW, Bd. 5, S. 15.

[32] Klaus Beckmann: Dienstweg – kein Durchgang? Als Pfarrer und Staatsbürger in der Bundeswehr, Berlin 2022, S. 243.

[33] Vgl. Jakob Knab (Hg.): „Helden“ der Vergangenheit. Das Elend der Traditionspflege. Rolf Johannesson, Paul von Hindenburg und Erwin Rommel, Bremen 2023.

[34] Beckmann: Dienstweg, S. 244.

[35] Vgl. Detlef Bald: Die Bundeswehr. Eine kritische Geschichte 1955-2005, München 2005, passim; hier Minister M. Wörner.

[36] (Anweisung von) Hartmut Bagger: Anforderungen an den Offizier des Heeres, Bonn 29. Juli 1994.

[37] Heeresamt: Anweisung für die Truppenausbildung Nr. 1. Die Allgemeine Grundausbildung in den Streitkräften – Ausplanung im Heer, Köln 25. Jan. 2006, S. 11; weitere Anweisungen folgten.

[38] Bericht des MAD, Stichtag 31.Dez. 2022; viele mit „fehlender Verfassungstreue“.

[39] Hans Christoph von Haase: „Abkehr von der Phraseologie zum Wirklichen“. Persönliche Erinnerungen, in: DBW, Bd. 10, S. 596.

[40] Carl-Friedrich von Weizsäcker: Gedanken eines Nicht-Theologen über Dietrich Bonhoeffers Entwicklung, in: Hans Pfeifer (Hg.): Genf `76. Ein Bonhoeffer-Symposium, München 1976, S. 39.

[41] Sifton, Stern: Keine gewöhnlichen Männer, S. 70.

[42] Karlheinz Lipp, Reinhold Lütgemeier-Davin, Holger Nehring (Hg.): Frieden und Friedensbewegung in Deutschland 1892–1992. Ein Lesebuch, Essen 2010, S. 30.

[43] Karl Holl: Pazifismus in Deutschland, Frankfurt/M. 1988, S. 11 f.

[44] Dietrich Bonhoeffer: Rechenschaft an der Wende zum Jahr 1943, in: DBW, Bd. 8, S. 25.