Rundbrief 2017-11 Die Elenden von Lodz

Posted in Rundbriefe des Obmanns

HAPAX und ein herzliches Hallo zum Rundbrief November 2017!

Wie konnten sie das tun, was sie taten?

Der schwedische Schriftsteller Steve Sem-Sandberg schreibt keine Bücher, die man zum Vergnügen liest, denn diese beschäftigen sich eher mit dunklen Seiten der Geschichte.

2011 erschien sein Roman "Die Elenden von Lodz", ein Buch über das zweitgrößte jüdische Ghetto in Polen während der Nazi-Zeit. Ein monumentales 700 Seiten-Epos, halb Dokumentation, halb literarische Fiktion, das international für Aufsehen sorgte und als virtuoses Meisterwerk gepriesen wurde.

In Wien, wo der Schwede seit vielen Jahren lebt, spielt auch sein Roman "Die Erwählten", in dem er die Verbrechen der Nationalsozialisten an Kindern in der „Heil- und Pflegeanstalt "Am Steinhof" beschreibt – ein Buch über kranke und behinderte Kinder, die in den Pavillons "Am Spiegelgrund" von Ärzten und Krankenschwestern getötet, sadistisch erniedrigt und schmerzhaften Torturen ausgesetzt wurden.

Mit der Präzision eines Historikers und den Freiheiten eines Schriftstellers gelingt es Sem-Sandberg in beiden Büchern, sich in Opfer und Täter gleichermaßen hineinzudenken und so einer Zeit, über die schon alles gesagt schien, neue Dimensionen abzugewinnen.

Steve Sem-Sandberg wurde am 16. August 1958 in Oslo geboren und lebt in Stockholm und Wien. 2009 erhielt er für seinen Roman „Die Elenden von Lódź“ einen schwedischen Literaturpreis, für seinen Roman „Die Erwählten“ erhielt er 2016 einen französischen Literaturpreis. Beide Romane stehen in unserer Bonhoeffer-Bibliothek!

Steve Sem-Sandberg

Am 15. Juni 1946 begann in Wien der sogenannte „Steinhofprozess“ gegen drei Ärzte des Kinderkrankenhauses „Am Spiegelgrund“. Einer der Ärzte, der letzte Direktor dieser Anstalt, Doktor Illing, wurde in diesem Verfahren zum Tode verurteilt und auch hingerichtet.

Sein Stellvertreter, Doktor Groß, war nach Kriegsende in russischer Gefangenschaft und entzog sich nach seiner Heimkehr geschickt der strafrechtlichen Verfolgung. Er wurde sogar noch Chefarzt der Klinik und starb erst im hohen Alter, am 15. Dezember 2005 mit 91 Jahren. Anna Katschenka, eine der leitenden Krankenschwestern, wurde zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Die anderen Schwestern waren nicht aufzufinden.

Die eigentlichen Opfer dieser Verbrechen – Säuglinge, Kinder und Jugendliche – blieben ohnehin stumm, diese gedemütigten und geschundenen Menschen, die zu wissenschaftlichen Zwecken ohne Betäubung gequält und gemartert wurden. Die Schwestern und Ärzte hatten für die „Vernichtung des unwerten Lebens“ einen Freibrief von Hitler.

Die Klinik Spiegelgrund, die die Nationalsozialisten 1940 auf dem Steinhof-Gelände für kranke, behinderte und schwer erziehbare Kinder einrichteten, war „ein Aussonderungslager“. Hier ermordeten die Nazis mindestens 789 Kinder, deren Leichenteile erst 1997 in einem verschlossenen Kellerraum unter den einstigen Obduktionssälen des Steinhofs gefunden und 2002 auf dem Wiener Zentralfriedhof begraben wurden.

Adrian Ziegler, einer der Hauptfiguren in Sem-Sandbergs Roman „Die Erwählten“, hat seinen dreijährigen Aufenthalt (Januar 1941 bis Mai 1944) auf dem Spiegelgrund überlebt. Er ist 11 Jahre alt, als er im Pavillon 9 landet. Die Behörden glauben, dass seine psychisch labile Mutter und sein alkoholkranker Vater mit seiner Erziehung überfordert sind. Dem Jungen wurde von den Spiegelgrund-Ärzten mehrmals attestiert, trotz normaler körperlicher und geistiger Entwicklung, anlagebedingte starke Charakterstörungen zu haben, die in grob abartige Richtungen steuern.

Sem-Sandberg erzählt, was Adrian und andere Kinder auf dem Spiegelgrund erleben. Wie er zum Beispiel eine Lumbalpunktion bekommt (bei einer Lumbalpunktion wird eine Nervenwasserprobe aus dem Rückenmarkskanal entnommen, um verschiedene Erkrankungen zu diagnostizieren); wie er eine Pneumoenzephalografie über sich ergehen lassen muss (diese ist eine röntgenographische Untersuchung und Darstellung des Schädels nach Füllung der Hirnkammern mit Luft) und wie er dreimal ausbricht.

Wer von den Kindern zu den „Erwählten“ gehörte, war auch „erwählt“, von seinen Peinigern zum Tode gequält zu werden.

Wie konnten sie das tun, was sie taten?

 

Lesen wir bis zum Rundbrief Dezember 2017:

Psalmen 83 - 85; Matthäus-Evangelium Kapitel 12, die Verse 9 - 14

Beste Grüße, Euer Obmann Uwe